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10. Wer liess den Eisernen Vorhang herunter? Wem nützte er?

Ja, wer? Nach gängiger Lesart tat das der kommunistische Ostblock 1945, um seine Expansion in Osteuropa zu sichern und seine Untertanen an der Ausreise in den strahlend freien Westen zu hindern – und tat es gegen den Willen des Westblocks, mit Stacheldraht, Sperrzone und Schiessbefehl. Hauptargument des Westens: Bei jeder Öffnung, v.a. in Berlin und Ungarn, gab es eine Abstimmung mit den Füssen, und zwar von Ost nach West. Der Eiserne Vorhang sollte das verhindern. Welch klägliches Regime!

a) Ich tat mich, als Sympathisant des Ostens, auch stets schwer mit diesem Argument, es schien so einleuchtend, auch im Herbst 1989. Aber wer so denkt, hat eine Kaufhaus-Mentalität. Und er/sie übersieht vor allem, dass es im Westen lange vor dem Kriegsende 1945 beschlossene Sache war, den Alliierten Stalin nach dem Sieg über Hitler-Deutschland zu isolieren und eine Front gegen die Sowjetunion zu bilden, während Stalin, wie auch 55% der Bevölkerung in den USA, eine Fortdauer der Allianz anstrebte. Den Hauptpfeiler dieser antirussischen Front sollte das Nachkriegs-West-Deutschland bilden, welches nicht nur industriell, sondern bald auch militärisch aufzurüsten war. Welche Eckpunkte der Geschichte beweisen das?

b) US-Präsident Roosevelt hatte Respekt vor Stalin und den Leistungen der UdSSR auf industriellem und militärischem Gebiet, und er hatte Verständnis für die Sehnsucht der Russen, nicht noch ein viertes Mal von Westen her angegriffen zu werden. Dieses Verständnis wurde von den Architekten der Nachkriegszeit in seinem Umfeld nicht geteilt. Nur drei Tage nach Roosevelts Tod (+12.4.45) trafen sich im State Department ein gutes Dutzend Spitzenbeamte, welche diese schon lange vorbereitete Architektur beschlossen, nämlich einen möglichst milden Frieden mit Deutschland anzustreben „im Hinblick darauf, dass Deutschland zu einem Bollwerk gegen Russland gemacht werden muss“. Der lange unterdrückte und schliesslich freigegebene Bericht von Drew Pearson über jene Sitzung trägt in den Annalen des 79. Kongresses die Bezeichnung A2170 (L.L.Matthias S.129). Diese Spitzenbeamten (Vandenberg, Foster und Allen Dulles, Clayton, Draper, McCloy u.a.) haben dann unter Präsident Truman eine solche antirussische Politik auch realisiert. Hintergrund war die Angst, die sowjetische Planwirtschaft könnte erfolgreich sein und das freie Unternehmertum samt privatwirtschaftlichem Gewinnstreben aushebeln. Truman formulierte diese Befürchtung am 6.3.47 im Baylor College, Texas (vgl. unten d).

c) In der Vorgeschichte zur Gründung der Vereinten Nationen (26.6.45) gab es eine Strömung, welche diese Welt-Organisation zum umfassenden Instrument der Friedenssicherung machen wollte (Roosevelt und Stalin in der Konferenz von Jalta). Und es gab eine andere Strömung, welche parallel zur UNO lokale und autonome Bündnisse ermöglichen wollte, nämlich die spätere NATO. Art. 52 der UNO-Charta (regional arrangements) gestattet – in gewundener juristischer Prosa – Blockbildungen, wie sie durch die UNO eigentlich vermieden werden sollten, also auch eine legale Isolierung der Sowjetmacht. Deren Delegation stimmte zwar gegen diesen Artikel, wurde aber von den West-Alliierten, im Verbund mit den lateinamerikanischen Staaten, majorisiert. Dasselbe geschah mit dem Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat, dem Stalin, entgegen dem Rat von Molotow und Gromyko, in einem Telefongespräch mit dem Amerikaner Stettinius, der die Gründungskonferenz präsidierte, nicht opponierte (Matthias S.113). – Die UNO-Charta gilt seit dem 24.10.45, die antisowjetische NATO wurde am 4.4.49 gegründet, der Warschauer Pakt am 14.5.55. Die Bundesrepublik wurde militärisch aufgerüstet und trat der NATO am 5.5.55 bei, die DDR zog am 28.1.56 nach. Der Warschauer Pakt löste sich am 1.7.91 auf, während die NATO weiterhin besteht und Angriffskriege weit ausserhalb des Nordatlantiks führt.

Vorläufer der UNO und, mit den Art. 51 und 52 der Charta, geographisch auch Vorläufer der NATO war die Atlantikcharta, welche von Roosevelt und Churchill am 14.8.41 unterzeichnet wurde, ohne Stalin zu informieren. Das spiegelte bereits die Vorliebe Churchills, sich mit den englischsprechenden Nationen zu verbünden, was er nach dem Krieg wieder aufgriff – um sich für die Niederlage von 1920 gegen die Rote Armee zu rächen (vgl. Kap. 6d).

Den Begriff Eiserner Vorhang erwähnte Churchill erstmals im Sommer 1945 angesichts des unter den vier Alliierten vereinbarten Rückzugs der Amerikaner und Briten aus Sachsen, Thüringen und Mecklenburg (Chronik S. 664). Als weltweit gebrauchten Ausdruck gibt es ihn erst seit der Rede Churchills in Fulton, Missouri, am 5.3.46, die per Radio simultan in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde. Churchill war zwar nicht mehr Premier, aber er sprach als einer der Sieger über Hitler und als weltweit geachteter Staatsmann, auf den der eher provinzielle Truman hörte. Die beiden sassen nebeneinander, als Churchill eine brüderliche Gemeinschaft der englischsprechenden Völker beschwor und sagte, dass von der Ostsee bis zur Adria ein eiserner Vorhang gefallen sei (Matthias S.124, Chronik S.681). Der Zweck der Rede war, die russophile Stimmung in den USA zu kippen und das nordatlantische Bündnis gegen Russland vorzubereiten. Damit konnte Churchill zwei Scharten auswetzen: seine Niederlage in Russland von 1920 (vgl. Kap. 6d) und Roosevelts Unterstützung für Stalin und gegen Churchills Pläne, in Polen die Londoner Exil-Regierung einzusetzen, welche gegen den Durchmarsch der Roten Armee gewesen war (S.103f). Nach dieser Rede fielen die Sympathiewerte für Russland von 55 auf 46 und dann auf 38% (S.126). Churchill hielt am 19.9.46 auch in Zürich eine Rede, in welcher er die Europäer aufrief, sich zu vereinen „that Europe arise!“ – mit diesem berühmten Ausruf meinte er allerdings nur West-Europa: Montanunion, EWG und EU folgten. Stalin hatte schon in der Prawda vom 13.3.46 bemerkt, es sei doch eigentlich nur ein geringer Unterschied, ob man wie Hitler die Hegemonie der Welt für die <arische> Rasse in Anspruch nähme oder für die <englischsprechenden> Völker …

d) Truman begründete die Abkehr von Stalin am 6.3.47 mit der Furcht, dass die russische Planwirtschaft erfolgreich sein könnte! Die ganze Welt sollte daher das amerikanische System übernehmen; denn dieses kann (selbst) in Amerika nur überleben, wenn es das System der ganzen Welt wird“ (Matthias S.127). Diese Rede im Baylor College, Texas, war der Auftakt zur Truman-Doktrin (12.3.47), nach welcher die USA allen politischen Kräften (auch Minderheiten!), welche sich gegen kommunistische Machtübernahmen wehren, wirtschaftlich und militärisch beistehen. Sie markiert den Beginn des Kalten Krieges. Als Konsequenz daraus gründete die UdSSR am 30.9.47 die Kominform (Stalin hatte am 15.5.43 die Kommunistische Internationale aufgelöst, um den Westalliierten die Sorge vor einer kommunistischen Weltrevolution zu nehmen; Anliegen der UdSSR sei allein, den „grossen vaterländischen Krieg“ zu gewinnen. Chronik S.603, vgl. Kap. 6) und übernahm damit die Zwei-Lager-Theorie, welche nach sowjetischer Lesart bedeutete, die Welt teile sich auf in ein imperialistisches = kriegstreiberisches und in ein antiimperialistisches Lager, welches aktive Friedenspolitik betreibe. Dieses Politik-Bild hielt sich zehn Jahre bis zum Zusammenschluss der Blockfreien Staaten als dritte Kraft.

e) Der Eiserne Vorhang fiel insofern, als die Sowjetunion durch den Gürtel von befreundeten Staaten in Osteuropa sicherer war vor einem vierten Angriff aus dem Westen (vor einem fünften, wenn man denjenigen Napoleons mitzählt). Die Kaufkraft für Konsumgüter wuchs in Westeuropa rascher als in Osteuropa, was sich durch die ungleichen Reparationen noch verstärkte. Das war gewollt und geplant, ein Teil der Roll-back-Strategie des Westens (vgl. Kap. 16 und 17); das Kaufkraft-Gefälle wurde begünstigt durch die Ausbeutung der Kolonien, was dem Osten nicht zur Verfügung stand. So musste tatsächlich ein Sog Richtung Westen entstehen, dem Osteuropa fast nur durch die Beschränkung der Reisefreiheit und die Kriminalisierung von „Republik-Flucht“ begegnen konnte (vgl. Kap. 17).

f) Wem nützte der Eiserne Vorhang? Aus den vier Garanten des Friedens (Roosevelt, Churchill, Stalin und die UNO) wurden durch die Verbrüderung der englischsprechenden Völker und die Frontstellung der NATO gegen die UdSSR deren zwei. Der eine verherrlichte die Freiheit des Unternehmers und das Privateigentum – und damit die Gewinn-orientierte Rüstungsindustrie – und profitierte vom bi-polaren Gleichgewicht des Schreckens, derjenige mit der staatlichen Rüstungsindustrie nicht. Also, wem nützte er? Der Nutzen für die UdSSR war defensiv, derjenige für die Westalliierten offensiv, zumindest wirtschaftspolitisch und propagandistisch.

g) Natürlich war auch das alles sehr viel komplizierter. Mir kommt es hier aber darauf an festzuhalten, dass die Frontstellung im Kalten Krieg nicht von der UdSSR ausging, sondern von den Kalten Kriegern im Westen. Sonst hätten diese die sowjetisch/ostdeutsche Politik nicht bekämpft (u.a. auf der Moskauer Konferenz vom 10.3.47), welche auf gesamtdeutsche freie Wahlen für eine Zentralregierung in einem entmilitarisierten Einheitsstaat zielte (Chronik S. 693 ff). Dieser wäre wohl mehrheitsfähig gewesen und hätte, jedenfalls in Deutschland, den Eisernen Vorhang verhindert und damit auch die deutsche Teilung. Es war die SED, welche an der deutschen Einheit festhielt, die CDU war dagegen (S. 702). Die West-Alliierten machten am 6. und 19.3.48 in London aus den Viermächte-Gesprächen solche zu dritt (Chronik S. 706, vgl. Kap. 16 und 17). Federführend waren die englischsprachigen Nationen, wie schon lange geplant. Und erst am 26.5.52 legte die DDR die Sperrzone mit Schiessbefehl an, den auch nach ihrem Verständnis Eisernen Vorhang.
Tja.

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