13. Was war denn an der sozialistischen Aufbruchstimmung so schlecht? Heute wären wir froh, wenn unsere Jugend am Aufbau einer besseren – nein: einer guten und gerechten Welt interessiert wäre statt an Konsum, Partys, Games und Socialmedia.
a) Während meiner Politisierung in den 60er Jahren wurde gespottet über die „Blauäugigkeit“ der Jugend in den sog. Ostblock-Ländern. Schon in den Jahren unter Lenin, also 1917-24, und danach sei das erzwungener Elan gewesen, Indoktrination und Gehirnwäsche, typisch für ein autoritäres System und im freien Westen deshalb strikt abzulehnen und zu bekämpfen. Auch in der Nachkriegszeit und im Osteuropa nach Stalin (+1953) benutzten die Antikommunisten den Fleiss und die Disziplin der begeisterten Arbeitsbrigaden dazu, deren Gesinnung als hochgradig manipuliert zu bezeichnen, ja als Anti-Ideal hinzustellen. Gleichzeitig zeigten sie begeistert auf die arbeitsamen sozialistischen Israeli der Gründerzeit in ihren Kibbuzim, ohne den Widerspruch zu bemerken. Denn beide Systeme hatten es geschafft, die werktätige Bevölkerung mit einem Ideal zu beseelen.
b) Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Gleichaltrigen, der mir das Stachanow-System in der UdSSR ab 1935 als das höllische Gegenteil westlich-freiheitlicher Arbeitsmoral hinstellte, als triftiges Argument gegen den Realsozialismus. Dieser Student war Offizier und bereit, für unser System und gegen das kommunistische selbst in den Tod zu gehen, ein Verbindungsbruder (vgl. Kap. 1).
Herr Wyss (vgl. Kap. 1) erklärte mir danach, wie es sich verhielt mit diesem Bergarbeiter namens Stachanow (1906-1977), der jenem System den Namen gab: er übertraf eines Tages die geltende Arbeitsnorm um das 14fache – einfach ein äusserst fleissiger Ausnahme-Arbeiter. Mir schien es dann natürlich und nicht höllisch, dass er als Vorbild hochstilisiert wurde und dass Statuen ihn ehrten. Ob er auch den 14fachen Lohn erhielt, weiss ich nicht, bin aber sicher, dass seine Motivation eine andere war als diejenige eines hiesigen Akkord-Arbeiters – eben: beseelt.
c) Auch über solche Statuen und überhaupt die bildende Kunst und Architektur der Stalin-Ära wurde hierzulande geschnödet und davor gewarnt, dass „die Kommunisten“ bei uns Ähnliches aufstellen würden, wenn sie an die Macht kämen. Analoges passierte mit zwei simplen Werkzeugen der Landwirtschaft und Industrie: Hammer und Sichel. Noch heute gewinnt die SVP Abstimmungen im Arbeitsbereich, z.B. zu einem Mindestlohn oder Ferienanspruch, wenn sie kommentarlos Hammer und Sichel ins Plakat montiert. Der damals eingepflanzte Reflex sitzt derart tief, dass er sich leicht aktivieren lässt – wie das üblich ist bei Papageien. Ob die heutigen Jungen da gleich anfällig sind wie wir Älteren, wäre noch zu erforschen.
d) Was ich eigentlich sagen will: Die jungen Erwachsenen von damals, in der UdSSR wie in Israel, waren bereit, sich für ein Ideal und hehres Ziel beseelen zu lassen. Bei uns im Westen war das überwiegend negativ konnotiert, ja wurde propagandistisch gegen den Osten verwendet. Heute wären wir froh, wenn sich die Jugend vom Ideal einer gerechten und friedlichen Weltordnung beseelen liesse. Es geht ja um ihre Zukunft, nicht um unsere. Es sind aber recht wenige, die überhaupt noch Ideale haben: ein paar Linke und Grüne, die sich um die Welt ihrer Enkel sorgen, verzettelt in Grüppchen gegen das System und uneins darüber, welches denn die Alternative wäre, unfähig zu grossformatigen Zweckbündnissen. Und sie kassieren ausnahmslos Abstimmungs-Niederlagen, sogar bei einer Grünen Wirtschaft, dem Ast, auf dem wir alle sitzen. Der grosse Rest kümmert sich um Karriere und Privates, um Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung, um Partys, Games und Socialmedia, vertieft in ihre Bildschirmchen, wann immer ich sie beobachten kann. Dann wünsche ich mir – nein, nicht gerade 14fachen, aber mehrfachen Fleiss und Einsatz für – eben: z.B. eine gute Welt, in der ihre Kinder und Enkel ohne grössere Sorgen das elementare, das ganze und farbige Leben geniessen können, nach der „Pink, Violet, Grey, Red Revolution“ . Ohne grössere Sorgen? Das ist im herrschenden System nicht möglich, hör dich um in deiner Community, nimm die Resignation wahr! Ist auch kein Wunder (vgl. Kap. 30).
Diese Essays wollen aufzeigen, welchen Paradigmenwechsel es braucht (vgl. Kap. 48-50).