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18. Mao. Die gelbe Gefahr – wieso denn? Er hatte aus der Geschichte der Weissen gelernt: „Alle Macht kommt aus den Gewehrläufen“ und fragte uns: „Wie viele Kanonen hat der Papst?“ Und die Weissen empörten sich – worüber eigentlich?

a) Vor einigen Jahren sagte mir ein junger Student über Mao (1893-1976): „Der grösste Massenmörder der Geschichte“. Mehr wusste er nicht. Wie kommt das?
Wie kommt ein Mensch zum Titel ‚Massenmörder’? Einer, so würde ich antworten, der riesige Massaker anordnet und durchsetzt, im Fall des Riesenreiches China demnach Massaker an Millionen Menschen, vorsätzlich durchgeführt mit Erschiessungen oder Vergasungen – man denkt an den Holocaust unter Hitler.
Geschah solches in Mao’s China? Nicht einmal der 1988 im damaligen Westdeutschland herausgegebene Brockhaus erwähnt Massaker, begangen von der Roten Armee oder dem Staatsapparat unter Mao’s Führung. Woher also der Titel ‚Massenmörder’ ??

Schon in meiner eigenen Studentenzeit wurde über Mao nur mit empörten Floskeln gesprochen. Es war üblich, vom China unter Mao als von der Gelben Gefahr zu reden. Gemeint war damit eine weltweite Bedrohung durch die Überzahl von Chinesen in ihren blauen Einheitskleidern, sinnbildlich für kommunistische Gleichschaltung und Diktatur: der Mensch als gefügige Arbeits-Ameise unter drakonischer Partei-Disziplin – ohne es zu merken.

Sogar aus besagtem Brockhaus lassen sich indessen andere Konturen herauslesen: Mao führte die Massen der zuvor feudalisierten und drangsalierten Bauern aus den gegen sie angezettelten Vernichtungsfeldzügen der Kuo-min-tang auf den Langen Marsch nach Norden (1934/35). Er hielt dann die Rote Armee weitgehend aus der direkten Konfrontation mit den japanischen Angreifern heraus, vertrieb die KMT vom Festland und rief 1949 die Volksrepublik China aus. Weitere markante Stationen waren der Grosse Sprung nach vorn (um 1960) und die Kulturrevolution (1966) sowie später die Öffnung nach Westen (friedliche Koexistenz). Nichts von Massakern, also massenhafter Tötung von Unbeteiligten, auch in der <Chronik des 20. Jahrhunderts> und im <Ploetz> nicht. Kriege ja, um die eigenen Anliegen durchzusetzen, aber keine Pogrome – das war eine Spezialität der Christen.

b) Bei uns im christlichen Abendland wurden die chinesischen Kommunisten richtiggehend verteufelt als grausame Vorkämpfer der Weltrevolution, also der Revolution in der ganzen Welt – obwohl offensichtlich war, dass China unter Mao ausschliesslich mit sich selbst und Taiwan (Insel-China unter Tschiang Kai-schek, pro-westlich) beschäftigt war (zu Tibet vgl. Kap. 19). Warum sich der mitteleuropäische Normalo von China als einer riesigen Gefahr bedroht fühlte, ist nur vor dem Hintergrund erklärbar, dass mit dem roten China ein weiterer riesiger Dominostein aus dem Gefüge der sog. Freien Welt herausbrach, nach der Sowjetunion und Osteuropa. Immerhin ging es um Sieg oder Tod des westlichen Polit-Systems mit seiner langen, vom Christentum geprägten Tradition und Kultur.

Man reagierte empört auf den Mao zugeschriebenen Satz über die Kanonen des Papstes. Das war zumindest heuchlerisch, wenn die Geschichte Europas nur schon im Jahrhundert von 1848 bis 1948 ins Blickfeld gerückt wird mit ihren zahllosen Kriegen, Kolonien und Millionen Toten, verursacht von Christen und mit dem Segen des Papstes. Der Atheist Mao wusste: Wenn es hart auf hart geht, entscheidet die Feuerkraft der Armeen und nicht das religiöse Feuer der Katholiken in China, welche sich gegen die maoistische Revolution stellten. Ausgerechnet die Christen empörten sich – über einen, der die Dinge beim Namen nannte und der, nebenbei gesagt, eine Revolution anführte mit dem erklärten Ziel, die Spirale der Kriege zu beenden. Seit Karl Marx ist dies das Ziel der Kommunisten, auch wenn die Christen das nicht glauben – und weiter Krieg führen.

c) Im Grossen Sprung nach vorn der Jahre 1958 bis 1961 versuchten Mao und seine Getreuen, den Anschluss an die wirtschaftliche Moderne des Westens und der UdSSR zu beschleunigen – eigentlich ein heroisches Ziel. Doch das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht – eine Weisheit, welche von Mao und seinen Getreuen missachtet wurde, mit katastrophalen Folgen. Missernten und Hungersnot forderten Millionen Opfer, trotz enormer Getreide-Importe. Die genannte Weisheit hätte die Not vielleicht verhindert. Aber von vorsätzlichem und massenhaftem Mord wie eingangs erwähnt kann dabei keine Rede sein, der Vorwurf ist eine böswillige propagandistische Unterstellung, unverständlich angesichts der Massenmorde in Europa …

d) Die Kulturrevolution ab 1966 richtete sich gegen die Bürokratie und die Klasse der Funktionäre. Mao strebte eine Massenbewegung an, getragen vor allem von der Jugend (Rote Garden), welche die Bereiche Politik, Kultur, öffentliche Meinung, Schule und Universitäten erneuern, ja umwälzen sollte, um den idealen sozialistischen Menschen hervorzubringen. Es gelang ihm, die Jugend dafür zu begeistern, dass sie mit Chaos auf Erden … große Ordnung im Land erreiche. Ein Ausspruch der Studenten lautete: «Zerschlagt die Vier Alten». Gemeint waren damit alte Denkweisen, Kulturen, Gewohnheiten und Sitten. Bei uns im verknöcherten Westen riefen solche Aufrufe zu Revolte und Anarchie heftige Abwehr-Reflexe hervor, die sich dann auch gegen die Anliegen der 68er Bewegung richteten. Zerschlagt die vier Alten indessen mündete in Fanatismus, Hass und Zerstörungswut und hatte im Verlauf der zehn Jahre der Kulturrevolution mindestens 400’000 Tote zur Folge, auch Folter, Gefängnis, Arbeitslager und Zwangsverschickungen. Ihre Ziele, der immerwährende Klassenkampf und eine ganze Generation von standhaften Kommunisten (a.a.O.), wurden verfehlt, die Viererbande büsste dafür. Einzig der Machterhalt Mao’s gelang.

Was können wir für das Anliegen einer Zweitauflage des Sozialismus lernen? Quirlige Lebendigkeit kann nicht verordnet werden, sondern muss sich aus der ursprünglichen Lebenskraft und Daseins-Freude der Menschen von selbst ergeben. Nur die Randbedingungen dafür sind Aufgabe des Staates: das Verbot grosser Unternehmungen in Privathand, welche sich sonst anti-sozial in die Politik einmischen würden. Gigantische Experimente wie die chinesische Kulturrevolution sind für die Vision des menschen-gerechten Sozialismus nicht typisch.

e) Und das Massaker an demonstrierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz am 4.6.89? Für viele Westler ist dies der Beleg für eine unmenschliche, ja barbarische Gesinnung kommunistischer Machthaber: Sie schiessen auf das eigene Volk, statt das Recht auf freie Meinungsäusserung zu achten und den Reformprozess voranzutreiben. Auch hier wird, um mit Jesus zu sprechen, der Splitter im Auge des andern bemerkt, nicht aber der Balken im eigenen Auge. Wie viele Massaker hat das vom Westen gehätschelte Israel an seinen palästinensischen Mitbewohnern verübt (Kap. 21-23)? Tote gab es zum Beispiel bei Polizeieinsätzen in Paris (6.12.86), 140 Verletzte bei Protesten gegen die Startbahn West in Frankfurt am Main (30.1.82), 200 Verletzte beim Marsch gegen das KKW Brokdorf (28.2.81), nicht zu sprechen von den zahllosen blutigen Staatsstreichen, Invasionen, Aggressionen und Rassen-Unruhen in der westlichen Welt mit insgesamt Zehntausenden von Toten und Verletzten. Niemals vergessen? Denkste!

Vor allem aber: Der Studenten-Protest auf dem Tiananmen-Platz endete zwar blutig, aber überhaupt nicht dort und ganz anders als von der westlichen Presse kolportiert. Innert Stunden wurde dort eine Lüge gebastelt, die sich propagandistisch glanzvoll verwerten liess (Platz des Himmlischen Friedens!) und die sich bis heute hält. Das bestätigt u.a. eine Studie der Harvard-Universität (a.a.O. n-tv). BBC-Korrespondent James Miles, der aus dem 600 m entfernten Hotel berichtete, bedauerte eine fehlerhafte Berichterstattung, bei der ein „falscher Eindruck“ vermittelt worden sei, und stellte klar: „Es gab kein Massaker auf dem Tiananmen-Platz.“ Unbestritten ist indessen, dass es Tote gab. Aber das zum weltweit gültigen Argument gegen den realen Sozialismus zu erklären (TA 12.5.16 S.7: Tausende starben; letzter Häftling kommt frei, er soll einen brennenden Korb auf einen Panzer geworfen haben) ist angesichts der viel grösseren und zahlreicheren Massaker, welche auf das Konto von Regierungen kapitalistisch organisierter Länder gehen, absurd (vgl. Kap. 20e).

f) Für den Westen gefährlich wurde China erst, als es die sozialistische Ideologie mit kapitalistischem Wachstums-Anreiz verknüpfte – als sich sein Fleiss in zweistelligen jährlichen Zuwachsraten niederschlug. Wenn es sich mit dem eurasischen Block gegen den Dollar verbündet (BRICS-Staaten), steht der US-dominierte Block demnächst auf tönernen Füssen: überschuldet und über-rüstet. Das wird das Ende der amerikanischen Vorherrschaft! Die propagandistische Vorherrschaft ist seit den NSA- und Folter-Skandalen ohnehin gebrochen. Bald ist es rentabler, mit China Geschäfte abzuschliessen als mit den USA. Ai-Weiwei wiegt denn auch leichter als Guantànamo.

Natürlich gäbe es zu China noch tausend Dinge zu sagen. Für mich ist in diesem Kontext massgebend, dass die positiven politischen Leistungen Mao’s und seiner Nachfolger diejenigen seiner Konkurrenten im Westen bei weitem übertreffen. Ich denke dabei an die Modernisierung dieses Riesenreiches, an die Ein-Kind-Politik, die uns im Westen eigentlich gelegen kam, sowie an das Vorbild und die Hilfe, die solche Staatsmänner den Völkern des Südens boten, als diese das Joch der christlichen Kolonialmächte abschüttelten (vgl. Kap. 14 und 15). 

g) Daran ändern die „Niederschlagung der Demokratie-Bewegung“ in Hongkong und die „Umerziehungslager für Uiguren“ nichts. Merkwürdig ist nämlich, dass die westliche Politik und Presse sich da massiv in die chinesische Innenpolitik einmischt, sich aber dagegen verwahrt, wenn China mit Hinweisen auf parallele Vorkommnisse im Westen kontert (Niederschlagung des Gilets jaunes-Aufstands in Frankreich, mit massiver Polizei-Gewalt). Das sei Einmischung, heisst es dann, und „vor der eigenen Türe wischen!“ Und merkwürdig ist, dass den Berichten der westlichen Medien, die auf China-Bashing getrimmt sind, sofort geglaubt wird, den Berichten der chinesischen Medien dagegen nicht. Warum haben diese eine geringere Glaubwürdigkeit als unsere? Warum wird hierzulande dem Ankläger eher geglaubt als dem Verteidiger? Dazu Kap. 2 … Wenn der Botschafter Chinas in Bern ausführlich begründet, dass sein Land in Sachen Corona-Virus richtig reagiert und nie etwas vertuscht habe (AZ 2.6.20 S.8) – glaubt ihm das der durchschnittliche Blick-Leser? Sicher nicht. Die Vorwürfe unserer Leit-Medien sind viel stärker. Eben.

a. Um Demokratie ging es den Studenten in Hongkong nur scheinbar. Die Proteste eskalierten nämlich, als die Gouverneurin ihren vordergründigen Forderungen entsprach. Es kamen neue, auch solche, die an der Staatsordnung rüttelten, untermauert mit einer Gewaltbereitschaft, die hierzulande ebenfalls massive Polizeigewalt provoziert hätte. Auf dem Campus der Polytechnischen Universität wurden nicht nur Pfeilbogen gefunden (sympathisch, Wilhelm Tell !), sondern Hunderte von Brandbomben (SDA in 20min. 29.11.19 S.17). Dass die Politik und Polizei das nicht hinnahmen, sollte uns eigentlich nicht erstaunen, zumal Donald Trump am 27.11.19 ein Gesetz unterzeichnete, das die Gewalttäter unterstützte: mit Sanktionen gegen die Obrigkeit in Hongkong. Welch dreiste Einmischung ! Der US-Botschafter wurde sofort einbestellt.  

b. Eine Einmischung des Westens ist es auch, wenn offizielle Stellen den China Cables sofort glauben, den Dementis aus China (Fake News!) dagegen nicht. Demgemäss handelt es sich in der Provinz Xinjiang um Ausbildungszentren, um die rückständigen Uiguren in der Amtssprache zu unterrichten und ihre Chancen im Arbeitsleben zu erhöhen. Andernfalls würden sie, so die chinesische Vertretung in Bern, für Extremismus und Terrorismus anfällig (20min. 19.12.19 S.2). Offenbar ist dieses Motiv, das auch unseren Arbeitserziehungsanstalten zugrunde liegt, hierzulande nicht glaubhaft. Wir sollen eher einer Uigurin glauben, welche seit 20 Jahren in der Schweiz lebt und die Umerziehungslager in ihrer Heimat anprangert. 

China hat seine Wirtschaft sich kapitalistisch entfalten lassen, mit beneidenswertem Erfolg. Aber die Kommunistische Partei hat dieses Riesenreich mit verordneter Disziplin im Griff, welche im weiteren Sinn als sozialistisch bezeichnet werden kann (vgl. dazu Kap. 47-50). Es gibt keine privatwirtschaftlich organisierte Rüstungsindustrie, an Aggressionen und Kriegen verdient kein Aktionär, anders als in den NATO-Ländern. Und deshalb gibt es keine, die Neue Seidenstrasse ist ein Friedensprojekt. Eine gemeinschaftliche Moral des Individuums wird (wirtschaftlich!) belohnt, eine schädliche bestraft. China hat zur Durchsetzung dieses Bonus-Malus-Systems eine flächendeckende Überwachung seiner Bevölkerung eingeführt, die im westlichen Sinn als anti-freiheitlich gilt. Warten wir ab, welche Moral sich durchsetzt! Ich tippe auf die chinesische. In der Eindämmung des Corona-Virus war sie schon mal erfolgreich, die westliche nicht …   

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