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20. Das westliche Empörungs-Management: Vietnam und andere christliche Greuel, oder: Wie lenkt man die Empörung auf die Untaten des Feinds und weg von den eigenen?

Hier soll nicht der Krieg der Franzosen und Amerikaner in Indochina nochmals erzählt werden. Vielmehr möchte ich den Focus darauf richten, wie es dem geschickten westlichen Propaganda-Management gelingt, die Empörung der politisch interessierten Menschen oberhalb oder unterhalb eines gewissen Niveaus zu halten (vgl. Kap. 2d).

a) Als ich 1996 Vietnam besuchte, erklärte ein örtlicher Reiseführer: Manche Besucher verwechseln dieses Land mit einem Krieg. – Er wollte den Focus 20 Jahre danach auf das Wiedererstarken und Gedeihen dieses Landes lenken, was ihm auch gelang. Unsere Gruppe bestand aber vorwiegend aus Leuten wie mir, die vom Vietnam-Krieg politisch massgeblich geprägt waren und u.a. dessen Spuren aufsuchten: mehr Bombenabwürfe als während des ganzen 2. Weltkriegs.

Das Internet gibt darüber genügend Auskunft, ich wiederhole nur: 60’000 gefallene US-Soldiers, Millionen Tote und Verletzte in Süd- und Nord-Vietnam, letztere auch über mehrere Generationen hinweg, als Folge des von den US-Truppen versprühten Napalms sowie des Entlaubungsgiftes Agent Orange, 400 kg reines Dioxin (Dokumentarfilm von Matthias Leupold 2015). Eine verkrüppelte Bäuerin sagte über die Bilder mit den Opfern dieser christlichen Greuel: Zuerst bombardieren sie uns, und dann fotografieren sie uns. An das grausame Phoenix-Programm der CIA erinnern sich nur wenige. US-Präsident Richard Nixon zeterte am 2.6.71: „Wir machen dieses gottverdammte Land dem Erdboden gleich“ (im Dok-Film N-TV 2.8.16).

b) Die USA haben nie anerkannt, dass ihr Krieg ein gigantisches Unrecht war, im Gegenteil: US-Präsident Ronald Reagan (1981-89) sagte über diesen Krieg später öffentlich „in truth a noble war„: ein edler Krieg. Die US-Administration hat sich nie dazu aufgerafft, die Opfer oder den Staat Vietnam zu entschädigen, im Gegenteil: 2008 wies ein Gericht die Klage von Agent-Orange-Opfern ab. Ähnlich wird es wohl der Klage der Dioxin-geschädigten Tran To Nga ergehen, welche in Frankreich gegen 26 US-Chemie-Firmen prozessiert (Hoa Binh 33/2018 S.14). Und gegen das sozialistische Vietnam wurde sogar ein Handelsembargo verhängt, das erst 1994, fast 20 Jahre nach Kriegsende, fiel. Diplomatische Beziehungen wurden 1996 aufgenommen. Zum Ende seiner Amtszeit im Jahre 2000 stellte Bill Clinton Vietnam staatliche Wiedergutmachung für die Kriegsschäden in Aussicht. Der vietnamesische Staat sollte die finanziellen Hilfen nutzen, um den verseuchten Boden zu entgiften. Clintons Nachfolger George W. Bush hat diese Wiedergutmachung jedoch abgelehnt (Spiegelonline a.a.O.) unter Beifall der alten und jungen Kalten Krieger: Keine Gnade für eine sozialistische Einparteien-Diktatur! Dabei würde es den USA in den Zeiten ihres vulgären Wahlkampfes (Trump-Clinton) gut tun, über den Satz des alten und neuen Generalsekretärs der KP Vietnams nachzudenken: Die Qualität eines politischen Systems hängt nicht ab von der Anzahl der Parteien, sondern von der Qualität der Parteien (Schweiz-Vietnam/Hoa Binh 31/2016 S.15).

c) Das Verbrechen der USA besteht demnach nicht nur in jener Kriegsführung, sondern, aus europäischer Sicht, mindestens so sehr in der geschilderten Nicht-Aufarbeitung. Der Oberkommandierende, General Westmoreland (welch sinniger Name), erhielt höchste Auszeichnungen, statt dass er wegen Verstosses gegen das Kriegsvölkerrecht vor Gericht gestellt wurde, analog zum Nürnberger Tribunal. Das gilt natürlich um so mehr für Präsident Lyndon B. Johnson: Ich gebe Vietnam nicht preis! … Der Pazifik darf kein Rotes Meer werden.Ich werde nicht der Präsident sein, der Südostasien den Weg Chinas gehen läßt. Gegenüber Kuba lebt eine solche Ideologie immer noch. Diese doppelte moralische Verwerflichkeit liesse sich anhand zahlloser weiterer Beispiele von US-Angriffskriegen schildern (vgl. Kap. 15, 32), auch anhand der Atombomben-Abwürfe über Hiroshima und Nagasaki sowie anhand der grausamen Flächen-Bombardements von deutschen Städten: unnötig, um Hitler zu besiegen; das wurde im eroberten Berlin erreicht, nicht im bombardierten Dresden.

d) Wenn nun von Verbrechen und Missmanagement während der Stalin-Ära die Rede ist und danach während der Sowjet-Ära (vgl. Kap. 7, 11), dann fällt auf, dass diese den Durchschnitts-Europäern immer noch präsent sind. Der Vietnam-Krieg jedoch, mit mindestens vergleichbaren oder grösseren Greueln, kommt den Leuten erst nach einigem Zögern in den Sinn, wenn von der Moral des Weltpolizisten USA die Rede ist. Sie wissen auch nichts über die Anzahl Gefangener in der UdSSR und in den USA (derzeit 2,2 Mio. in zum Teil privatisierten Haftanstalten, 20Min. 29.9.16 S.13) oder über den oft vergeblichen Kampf von z.B. Sioux-Indianern um ihr Trinkwasser (SDA in 20Min. 12.9.16 S.17). Woher kommt das? Nur aus der Geographie? Wieso ist die Analogie nicht zuvorderst: Sozialismus und Ostblock haben so viele Verbrechen und Missmanagement zu verantworten, gut sind sie verschwunden! – Die kriegstreibenden USA haben so viele Verbrechen zu verantworten, gut ist ihr System verschwunden … nein: noch da!! Die Greuel des christlich-kapitalistischen Systems werden nicht diesem als System angelastet, die Greuel des atheistisch-sozialistischen Systems dagegen werden diesem als immanentem System-Fehler angelastet. Dahinter steckt ein äusserst raffiniertes Empörungsmanagement. Eklatant ist es z.B. beim sog. Tiananmen-Massaker am 4.6.89 in Peking (vgl. Kap. 18): Die Erinnerung an diese Lüge wird noch immer genüsslich wachgehalten (TA 12.5.16 S.7: Tausende starben; letzter Häftling kommt frei, er soll einen brennenden Korb auf einen Panzer geworfen haben), diejenige an das Faktum des My Lai-Massakers in Vietnam jedoch vergessen (US-Soldaten töteten am 16.3.68 etwa 500 Dorfbewohner und folgten dem Befehl:„Endlich tun, wofür wir hier sind“). Das Liebes-Musical Miss Saigon dient diesem Vergessen erneut, und dort wird erst noch das Bild vom guten GI und bösen Vietcong gezeichnet …

e) Nebenbei ist die Frage interessant, ob es verwerflicher ist, auf Inländer zu schiessen oder auf Ausländer.

Hier ist klar: My Lai ist bestialischer als Tienanmen. Wenn man extrapoliert: Die US-Doktrin in Vietnam war weitaus bestialischer als die chinesische. Das Empörungsmanagement suggeriert uns aber das Gegenteil. Kai Strittmatter schreibt im zitierten TA-Artikel, niemand kenne die Zahl der Opfer des 4.6.89; er redet aber, wie wenn er es wüsste, von Tausenden. Das ist nicht nur raffiniertes Empörungsmanagement, sondern schlicht schludrig. Was würde er schreiben, wenn er an die vier Toten der Zürcher Jugendunruhen 1980/81 erinnert würde? Proportional zur Bevölkerungszahl Chinas und der Schweiz sind es etwa gleich viel. Wer hält in der Schweiz die Erinnerung wach als Systemfehler? Nur die Angehörigen … Ein alter Kollege im Chor benutzte sogar den gemütlichen Jahresend-Höck dazu, sein Gedicht über den 4.6.89 vorzulesen:

dass die Panzer, welche die Hoffnung zerstörten, den „Platz des himmlischen Friedens“
zum blutigen Schlachtfeld verunstalteten. – Zermalmt unter den Ketten der Panzer?
Zum Schweigen verdammt von der Repression der Machtsüchtigen?

Wie würde sein Gedicht lauten im Gedenken an die Jugendunruhen in Zürich? Er würde nur schon die Erinnerung deplaziert finden. Ich auch.

f) Kein Amerikaner errötet, wenn er auf den Vietnam-Krieg oder ähnliche Greuel angesprochen wird, auch kein Europäer, wenn er die USA für ihre Freiheit usw. lobpreist – während Putin verlegen wirkt, wenn er auf die Stalin-Ära zu sprechen kommt: Auch wenn man «die Hässlichkeit der Stalin-Ära» bedenke – «Repressionen und Deportationen» – habe sich, so Putin, das damalige Regime doch nie einen Völkermord zum Ziel gesetzt.

Und keinem Lobpreiser fällt auf, dass die Stalin-Ära rund 30 Jahre vor der Vietnamkrieg-Ära lag und erstere schon in den 1950er Jahren insofern aufgearbeitet wurde, als sich Chruschtschow und Nachfolger offiziell von jenen Untaten distanzierten und teilweise Wiedergutmachung anordneten, während die USA jede Wiedergutmachung von sich wiesen und darüber hinaus die Politik wiederholter kriegerischer Aggressionen in aller Welt fortsetzten, ohne Scham und Entschädigung, bis heute und vermutlich noch ein Weilchen. Das Andenken an die Untaten der Stalin-Ära wird wachgehalten, dasjenige an die zeitgleichen Untaten der europäischen Kolonialmächte in ihren Besitztümern in Afrika und Südost-Asien aber nicht. Auch die Verallgemeinerung ist einseitig: Nie wieder Sozialismus! Aber Hoch lebe das Nachfolge-System des Kolonialismus! Ja, Neo-Kolonialismus: Die direkte Beherrschung wurde durch eine indirekte abgelöst. Militärische, politische, kulturelle, technologische, finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeiten stellen Mechanismen des Neokolonialismus dar .

Kein Franzose empfindet Scham, wenn er auf Algerien als Kolonie (1830-1962) angesprochen wird … Demgegenüber wird einem, der sich zum Sozialismus bekennt, bald einmal die Stalin-Ära vorgehalten! Dabei war die Französische Doktrin, proportional zur Fläche, viel grausamer. Vergessen? Verdrängt? Nie gewusst? Eben.

Die Kommunisten der Sowjetunion haben sich von den Untaten Stalins distanziert, lange bevor sich die Kapitalisten und Kolonialherren von ihren viel brutaleren Untaten in den Kolonien distanzierten, lange bevor diese aus ihrer Knechtschaft entlassen wurden – dank blutiger Kämpfe und nicht etwa freiwillig. Warum wird aber nur an den Stalin-Terror erinnert? Eben.

Ein ähnliches Beispiel ist der katholische Alt-Kanzler Helmut Kohl, allseits geachtet. Auch er errötete sicher nicht, wenn er auf seine Freundschaft mit dem Präsidenten Indonesiens angesprochen wurde: General Suharto, 1965/67 bis 1998 an der Spitze dieses Landes. Kohl hatte keine Mühe damit, dass Suharto während seiner undemokratischen Machtergreifung eine halbe oder ganze Million als Kommunisten denunzierte Landsleute ermorden und 1975 Osttimor besetzen und einen Drittel der Einwohner umbringen liess – zeitgleich mit dem Krieg in Vietnam. Auch der wichtigste Handelspartner USA unterhielt zu diesem Massenmörder gute Kontakte, Präsident Nixon lobte ihn am 27.7.69 für seine erfolgreiche Politik. – Wer erinnert sich heute noch an diesen schrecklichen Verbündeten der USA und Deutschlands? Die Empörung wird weit unter dem Bewusstheits-Niveau gehalten; diejenige über Stalin und Mao jedoch, obwohl diese mehr als eine Generation früher wirkten, ist immer noch da, verjährt nicht, ist immer noch ein Argument gegen den Sozialismus und für die Aufrechterhaltung des westlichen Systems. Die Schlächter von damals haben übrigens in Indonesien noch heute Star-Status (Dok-Film 2012: The Act of Killing).

Dieselbe politische Schizophrenie erleben wir, wenn eine Dürre mit Todesfolgen in der UdSSR, China oder Nord-Korea dem Regime angelastet wurde und wird, in Indien oder Argentinien aber – dem Wetter …

g) Wie kommt es, dass nicht nur das Erröten ausbleibt, sondern dass wir dieses von christlicher Ideologie geprägte System, welches so viel vermeidbares Leid verursacht, aufrechterhalten – wider besseres Wissen? Erklären kann ich mir das nur mit der äusserst raffinierten Propaganda der USA und ihrer Vasallen, welche das Andenken an sowjetische Untaten wachhält, das Andenken an die eigenen Untaten aber löscht oder jedenfalls unterhalb des Niveaus von Bewusstheit hält. Die Absicht dahinter ist, jeden Gedanken an einen zweiten Anlauf zum Sozialismus im Keim zu ersticken. Diese Absicht verfolgt ausgerechnet unser westliches System, welches politische Vielfalt predigt und politische Einfalt produziert – z.B. Trump versus Clinton.

h) Wer das gelesen hat, möge sich prüfen, ob er/sie diesem raffinierten Empörungs-Management ebenfalls auf den Leim kriecht. Wenn nicht: Willkommen im Club !! Dann wirst du mir vielleicht zustimmen: Eine Flut von Informationen ist noch lange nicht Informiertheit. Dazu braucht es zweiäugige Medienkompetenz (vgl. Kap. 2).

Vielleicht willst du dieses Wissen weitergeben, z.B. in Form des Vortrags von Rainer Mausfeld (letztes Drittel): Warum schweigen die Lämmer? Er beschäftigt sich detailliert mit dem politisch gesteuerten Empörungsmanagement, das, abhängig vom Status des Objekts der Empörung (das eigene bzw. „befreundete“ Regime vs. „feindliche“ Regime), eingedämmt oder angefacht wird.  Aktueller Terminus  in diesem Kontext ist „Terrorismus“, ein nach Mausfeld  “zutiefst ideologisch gefärbter Begriff“.  Als eindrückliches Beispiel für erfolgreiches Empörungsmanagement zitiert Mausfeld die rund 20 bis 30 Millionen toter Zivilisten (!), welche die Weltmacht USA seit dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten habe und die durch die genannten Techniken des Meinungsmanagements – und trotz öffentlich verfügbarer Informationen darüber! – unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle bleiben und deshalb keine Empörung auslösen.  Ebenso übrigens wie alle Opfer sogenannter „struktureller“ Gewalt!
Alle Thesen des Vortrags werden mit Quellen und gut verständlichen Schaubildern und Tabellen belegt.

Das ist es, was wir aus dem Vietnam-Krieg auch noch lernen können.

Nein, noch etwas: Das Musical Miss Saigon zeigt eine rührende Liebesgeschichte zwischen einem US-Soldaten und einer Vietnamesin. Er wird als Good Guy dargestellt, im Gegensatz zu den bösen Vietcong-Guerilleros. Die Vereinigung Schweiz-Vietnam hat den Musical-Besuchern einen Flyer ausgehändigt, in welchem an 3 Mio. Tote, 4 Mio. Verletzte und an 3 Mio. vom Sprühgift AgentOrange/Dioxin Geschädigte erinnert wurde (Missbildungen bereits in der 4. Generation). Sie erntete nicht nur, aber überwiegend positives Echo auf diesen Flyer, sogar von Prominenten. – Und von dir? Solches Empörungs-Management ist subtile Propaganda, welche uns wie Sprühgift anhaftet, solange wir – na du weisst schon, was ich meine.  

 

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