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21. Israel – mit Waffengewalt gegründet auf Kosten der Palästinenser. Es will auch heute keinen (Nahost-) Frieden, sondern Land, um es zu besiedeln, palästinensisches Land, bis zum Jordan.

a) Israel, gegründet am 14. Mai 1948, galt im Westeuropa der Nachkriegszeit jahrzehntelang als braver Staat, als wohlverdienter Zufluchtsort nach dem Holocaust. Kaum jemand bezweifelte hierzulande den Eindruck, dass Juden aus aller Welt friedlich in eine dünn besiedelte Wüstengegend in Palästina strömten und dort mit enormem Fleiss einen blühenden Kleinstaat aufbauten, verbündet mit dem braven Westen. Kaum jemand hatte Sympathien für die umliegenden arabischen Staaten, welche nach hiesiger Wahrnehmung neidisch und kriegslüstern diesen neuen Nachbarn beargwöhnten und austilgen wollten. Ich erinnere mich gut an eine Karikatur im Nebelspalter, welche den Staatsgründer David Ben Gurion bei Arbeiten in einem üppigen Garten zeigte, umlauert von schwarzen Raubvögeln mit den Fratzen der benachbarten Staatsoberhäupter, allen voran Gamal Abdel Nasser von Ägypten. Die Bildlegende gab die Sympathien für Israel wieder: „Es kann der Brävste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

Der Brävste? Wie gelang es Israel, in dieses Image zu schlüpfen? Wie schaffte es Israel, in einem europäischen Lieder-Wettbewerb mitzumachen? Israel – eine europäische Nation?

b) Wir wussten nichts von den Kriegsgreueln anlässlich der Staatsgründung, nichts vom Elend der Vertriebenen, welche zu Hunderttausenden in Zeltlagern dahinvegetierten, verbittert über die Gleichgültigkeit und Taubheit des zivilisierten Westens. Wir waren ja gefangen im Ost-West-Schema, welches uns beibrachte: Das böse kommunistische Osteuropa sympathisiert mit den Arabern, wir Guten und die reumütigen Westdeutschen mit Israel. – Ich weiss allerdings nicht, ob sich daran etwas geändert hätte, wenn wir die wirkliche Geschichte der Staatsgründung Israels und seiner Palästina-Politik gekannt hätten. Fest steht indessen, dass meine Generation einer übel schönfärberischen Propaganda-Lüge aufgesessen ist: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.“ Und aus heutiger Sicht ist klar, dass und warum die USA und Westeuropa diesen Horchposten im Nahen Osten brauchten und uns zu Papageien degradierten.

c) Zu allen Zeiten und überall haben sich Siedlungsgebiete der Menschen zu Staatsgebieten erklärt – oft mit Waffengewalt. Oder sie haben sich vereinigt oder getrennt – auch oft mit Waffengewalt. Oder Menschen sind in ein fremdes Siedlungsgebiet eingedrungen – auch oft mit Waffengewalt, z.B. die nachmaligen US-Amerikaner in die Siedlungsgebiete der sog. Indianer. Vergleichbares geschah nördlich und vor allem südlich der USA, bis „hinab“ zum Kap Horn (vgl. Kap. 3). Auch Afrika wurde mit Waffengewalt kolonisiert und konnte sich meist nur gewaltsam befreien. So scheusslich diese Kriege waren, so banal klingt das heute. Und es spielte sich vor aller Augen ab.

d) Mit Israel verhält es sich anders. Dieser Staat, dessen Existenzrecht heute nicht einmal mehr von seinen ärgsten Feinden bezweifelt wird, konstituierte sich 1948 als jüdischer Staat, und zwar auf Siedlungsgebiet, das zuvor, als britisches Mandatsgebiet, von mehreren Ethnien bewohnt worden war. Er erhob die Einwanderung von Juden aus aller Welt zum Programm und verdrängte die arabische Ethnie, das Volk der Palästinenser, welches vorher dort gelebt hatte. Bildlich gesprochen zwängte sich Israel zwischen arabische Siedlungs- und Staatsgebiete. Es wurde denn auch von diesen als feindlicher Fremdkörper wahrgenommen, als Eindringling. Das Besondere dieser Geburt einer neuen Nation liegt nun darin, dass die Israeli zwar ihre Staatswerdung vor und nach der Proklamation vom 14.5.48 mit Waffengewalt durchsetzten, dass sie das aber, jedenfalls offiziell, stets leugneten und immer noch leugnen. Gegenüber dem Rest der Welt und sogar im Schulunterricht (S. 84 meines Buchs Israel in Palästina) und sowieso in gläubigen Kreisen wird seither der erwähnte Mythos der Staatswerdung aufrecht erhalten: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.“ Dadurch geht völlig unter, dass die militärische Eroberung des israelischen Staatsgebiets (in den Grenzen von vor 1967) der Ursprung und Kern des sog. Nahostkonflikts ist und deren Leugnung der hauptsächliche Grund dafür, dass dieser Konflikt seit 1948 andauert und als unlösbar gilt. Denn die Leugnung bedeutet ja das Festhalten am Mythos, dass die Palästinenser (rund eine Million) vor und nach dem 14.5.48 ihr Siedlungsgebiet freiwillig verliessen, es daher kein Flüchtlingsproblem gebe und deshalb auch kein Rückkehr- und/ oder Entschädigungsrecht.

e) Ich habe mich mit dem Nahostkonflikt seit 1967, als wir auf der Hochzeitsreise von der Küste vor Troja aus russische Kriegsschiffe südwärts fahren sahen, stets befasst, und nach der Ausbildung zum Mediator empfand ich es als Herausforderung, für diesen unlösbaren Konflikt eine Lösung zu präsentieren: <Israel in Palästina – Wegweiser zur Lösung> (Melzer Verlag 2010, ISBN 978-3-9813189-5-1). Ich habe den genannten Mythos anhand historischer Quellen genau untersucht (S. 43-87) und kann, vor allem gestützt auf das Tagebuch des Staatsgründers David Ben Gurion und das vor 20 Jahren geöffnete Militärarchiv Israels, als historische Fakten aufzählen (S. 69 ff):

  • Im späteren Staatsgebiet Israels lebten 1947, gemäss britischer Volkszählung, 1’319’434 Araber und knapp halb so viele Juden; nach der Staatsgründung Israels und der Vertreibung der meisten Palästinenser waren es etwa 165’000 Araber und 1’292’140 Juden (S. 61, 72).
  • Die Palästinenser räumten ihr Land nicht freiwillig, sondern wurden militärisch vertrieben, und zwar gemäss dem Plan Dalet vom 10. März 1948, welchen die israelische Armee vor und nach der Staatsgründung umsetzte (S. 73 ff.): Sie eroberte elf Städte und 531 Dörfer, grösstenteils mit grauenhaften Massakern (S. 74-80), und tilgte deren Trümmer aus den Landkarten und Ortsbezeichnungen (S. 73). Ben Gurion schrieb schon am 14.4.48: „Von Tag zu Tag weiten wir unsere Besetzung aus. Wir besetzen neue Orte und haben gerade erst angefangen.“ (S. 57) Und ein Kommandant schrieb am 21.4.48: „Unsere Armee marschiert voran und erobert arabische Dörfer, und ihre Einwohner flüchten wie Mäuse.“ (S. 57 f) Am 18.7.48 schrieb Ben Gurion in sein Tagebuch: „Wir müssen alles tun, um sicherzugehen, dass sie niemals zurückkommen.“ (S. 59) Auch das wurde planmässig, mit systematischen Zerstörungen, sichergestellt (S. 69 ff). Später wird er sagen: „Israel hat keinen einzigen Araber vertrieben.“ (S. 61) Damit setzt er sich in lügnerischen Gegensatz zum offiziellen Militärarchiv Israels, welches die militärische Vertreibung im Detail dokumentiert (S. 69 ff).
  • Beim erwähnten Mythos handelt es sich also nicht um eine verbrämte Legende wie z.B. Wilhelm Tell, sondern um eine von den Staatsgründern bewusst in die Welt gesetzte Lüge. Der Historiker Benny Morris, der das aufzudecken half, verbrämte sie später: „Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerbrechen.“ (S. 87) Die Besiedelung militärisch eroberten Gebiets, das Omelett, war denn auch 1948 völkerrechtlich nicht verboten, erst ab 1949 – von Israel 1951 ratifiziert (S. 141).
  • Die Palästinenser nennen ihre Vertreibung Nakbah, die Katastrophe. Die Zahl der 1947/49 Geflüchteten ist nicht genau bekannt: mindestens 800’000. Die UNO gründete ein spezielles Hilfswerk, die UNRWA (S. 60), welches die Flüchtlinge und ihre Nachkommen in den benachbarten Ländern und im Gaza-Streifen (inzwischen die 4. Generation) bis heute verwaltet, versorgt und ernährt. Ohne den Flüchtlingsstatus wären sie ohne Brot; darum wollen sie ihn nicht ändern, sich nicht einbürgern – was ihnen Israel wiederum vorwirft. Ihre Zahl ist auf 5’471’024 angewachsen (2008, S. 119).
  • Seit einigen Jahren ist auch hierzulande bekannt, dass die israelischen Militärkräfte während der Nakbah rund 70’000 Bücher aus öffentlichen und privaten Bibliotheken der Palästinenser beschlagnahmten (vgl. den Dok-Film The Great Book Robbery, 2007/2012 und Die Verteilung der Beute, ein Kapitel im Buch von Tom Segev „Die ersten Israelis“, ISBN 978-3-570-55113-4). Etwa 6’000 davon fanden den Weg in die Israelische Nationalbibliothek, wo sie mit der Signatur AP katalogisiert wurden: Abandoned Property … Damit stahlen die Israeli den vertriebenen Palästinensern einen Teil ihrer Geschichte und ihrer Würde.

f) Art. 13 Ziffer 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.48 lautet (S. 122; Tomuschat, Völkerrecht, 2009/S. 128):

Jeder hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.

Israel hat die alten palästinensischen Städte und Dörfer systematisch zerstört und die Rückkehr rechtlich und faktisch verunmöglicht (S. 60). Genaueres kann meinem Buch entnommen werden. Das alles ist gesicherte historische Erkenntnis, unbestreitbar. – Ich schreibe das, um den Hass nachvollziehbar zu machen, der in beiden Völkern lodert. Auf Seiten der Palästinenser ist er die Folge davon, dass Israel ihnen schon 1948 und seither alles gewaltsam wegnimmt: Land, Wasser, Entwicklungschancen, überhaupt ein Leben in Würde. Und sie waren und sind erbittert darüber, dass der Räuber, und mit ihm weite Teile der Weltöffentlichkeit, den Raub erst noch leugnet und damit die Demütigung vervielfacht. Auf Seiten der meisten Israeli ist der Hass die Folge davon, dass sie seit Jahrzehnten mit der Lüge gefüttert werden, das ehemalige Land Palästina zwischen Mittelmeer und Jordan gehöre ihnen, aus historischen und vor allem aus religiösen Gründen. Der Messias kommt erst, wenn alle Juden in Palästina versammelt sind – so der Glaube der Orthodoxen. Wenn sich die Araber dem widersetzen, also ihre Heimat verteidigen, sind sie Feinde, Todfeinde. In Siedlerkreisen heisst es denn auch: „Sie leben bei uns, nicht wir bei ihnen.“ Mit dieser Lüge konnte und kann die Gegenwehr der Bestohlenen als Terrorismus abgetan und bekämpft werden – seit <9/11> erst recht. Aber ich greife dem nächsten Kapitel vor …

g) Mir ist klar, welcher Hass verständlich und welcher grundlos ist. Das wird mir allerdings wieder den Vorwurf der Einseitigkeit bescheren. Ich habe aber jeweils keine Antwort erhalten auf meine Gegenfrage: „Wie sähe denn Zweiseitigkeit aus?“ Eine Antwort gäbe es ja nur, wenn die Palästinenser die Israeli vertrieben hätten, nicht umgekehrt, oder wenn sie für den Holocaust verantwortlich wären. – Heute rechtfertigen die Freunde Israels die militärische Vertreibung der Palästinenser oft mit deren Weigerung, den Teilungsplan der UNO vom 29.11.47 anzunehmen; dann müssten halt die Waffen entscheiden (David Ben Gurion am 3.12.47). Merkwürdig: Die Araber stellten 2/3 der Bevölkerung, hätten aber mit nur 42,88% des Landes zufrieden sein sollen (S.55/56). Sofort nach der Ablehnung begann die Haganah in Haifa mit ersten militärischen Vertreibungen, dem Anfang der ethnischen Säuberung, vier Monate vor der Staatsgründung Israels.

Ich anerkenne das Recht der Juden, in einem eigenen Staat zu leben, zumal nach dem Holocaust. Ich anerkenne auch das Recht Israels, sich zu verteidigen. Ich erwarte aber seitens der Enkel der Täter die Anerkennung der Nakbah, mit offenen Folgen. Das ist der Minimal-Preis für die Wahl des kriegerischen Wegs zur Staatsgründung. Es gab nämlich innerhalb der Zionistischen Bewegung stets auch namhafte Stimmen, welche einen friedlichen Weg zu einem für beide Ethnien offenen Staatswesen anstrebten (S. 251). Dann wäre Israel nicht der (ausserhalb Europas und der USA) meistgehasste Staat der Welt, ein Outlaw, sondern ein geachtetes Mitglied der Staaten- und Wertegemeinschaft, und man hätte keine Doppelmoral gebraucht, um es mit Milliarden-Hilfe am Leben zu erhalten. So wie die Geschichte Israels seit 1948 verlief, gleicht sie dem Goethe-Zitat, welches ich dem Kapitel über die Nakbah voranstellte (S. 43): „Wer den ersten Knopf verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht mehr zu Rande.“ Aber vielleicht will Israel sein Kleid gar nicht korrekt zuknöpfen, weil es andere Absichten hegt, böse, und weiterhin auf Kosten der Palästinenser …

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