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Stell’ dir vor, du seist Westdeutscher im Jahr 1950. Oder bist du gar so alt wie ich (geb. 1941), dass du dich an die Stimmung von damals erinnerst?

a) Die Bundesrepublik war gestärkt dank der Marshallplan-Gelder, die Ostzone oder DDR geschwächt wegen der Reparationsleistungen an die Sowjetunion, sogar stellvertretend für die BRD (vgl. Kap. 17). Ich weiss, das war sehr viel komplizierter, aber in den Grundzügen stimmt es so. Ludwig Erhard (1897-1977) war in der Adenauer-Regierung Wirtschaftsminister von 1949 bis 1963 und bis 1966 Bundeskanzler. Er gilt als Vater des Wirtschaftswunders und der Sozialen Marktwirtschaft.

Und nun stell’ dir rückblickend die Ausgangslage vor: Die westdeutschen Machtträger waren allesamt Kommunisten-Hasser, von Adenauer über Erhard bis zu Franz Josef Strauss in München (1915-1988, CSU-Boss bis zu seinem Tod) und Bundesminister in Bonn (1953-1969). Ihnen fiel nicht im Traum ein, die Realität eines sozialistischen Ostdeutschland zu akzeptieren, schon gar nicht unter dem Namen Deutsche Demokratische Republik. Sie frönten der Hallstein-Doktrin und strebten ein Roll-back der innerdeutschen Grenze bis mindestens zur Oder-Neisse-Linie an (West-Grenze Polens seit 1945). Adenauer hielt das noch zu Lebzeiten für möglich (1953, Wikipedia a.a.O.) „Die Arbeit nach der Wiedervereinigung in diesem Gebiete kommt einer neuen Kolonisation gleich …“

b) Mit dieser Ausgangslage war es den Machtträgern der BRD klar, dass die westdeutschen Arbeitnehmer im Vergleich mit den Ostdeutschen im „Arbeiter- und Bauern-Staat“ nicht nur auf dem Gebiet des Lebensstandards, sondern auch in der Sozialen Sicherheit (Krankheit/Unfall, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Witwen- und Waisen-Vorsorge, Altersvorsorge; Arbeitnehmer-Mitbestimmung) vorne sein mussten. Andernfalls riskierten die Arbeitgeber riskante Arbeitskämpfe, in denen die Gewerkschaften auf die bessere Situation im verhassten und geschmähten Ostdeutschland verweisen konnten (Droh-Argument: Planwirtschaft). Also nutzte Wirtschaftsminister Erhardt die Gunst der Stunde (die wirtschaftlich besseren Startbedingungen der BRD, vgl. Kap. 16/17), um im Rahmen des Wirtschaftswunders die Auffangnetze der Sozialen Sicherheit zu verstärken, weit über die Sozialversicherungen aus der Zeit Bismarcks hinaus. Die Parole Erhardts war Wohlstand für Alle (gelungen!) und Volkskapitalismus (gescheitert, a.a.O. 3.2.2.2).

c) Von 1950 bis 1990 hatte der Real-Sozialismus des Ostens demnach in Westeuropa zwar keine Vorbild-, aber immerhin eine Korrektiv-Funktion. Nach der Selbst-Aufgabe des ersteren fiel letztere dahin. Der Neo-Liberalismus nahm überhand: Heute versteht man den Neoliberalismus als Rückbesinnung auf den alten Liberalismus (Raubtierkapitalismus).
 Neoliberal steht als Abwendung von der sozialen Marktwirtschaft. Der Staat gibt dem Kapital wieder die Zügel in die Hand, er betreibt und propagiert Lohn- und Sozialabbau. Er erreicht sein Ziel hauptsächlich durch eine einzige Maßnahme: den Verzicht auf den Selbstschutz der heimischen Wirtschaft.
 Die einheimischen Produzenten werden gezwungen, mit allen Billiglohnländern dieser Erde in einen offenen Vergleich, einen gnadenlosen Wettstreit zu treten.
 Bewirkt wurde dies ganz einfach durch den Abbau der Zölle.

d) Dieser ist nun seit über 30 Jahren und immer noch im Gange. Er hat unter anderem zur Öffnung der Schere zwischen Reich und Arm geführt (vgl. Kap. 29 und 30). Das war denn auch der Zweck der Wende. Ein weiterer war das Roll-back der Grenzziehung durch den Eisernen Vorhang. Der Traum Adenauers und Strauss’ hat sich erfüllt. Den Preis dafür zahlen die untersten und die vom Sozialabbau bedrohten Einkommens-Schichten durch eine Umverteilung von Arm zu Reich: Eng verschränkt mit der Finanzialisierung (Aufstieg der Finanzwirtschaft zur Leitindustrie) ist ein zweiter Megatrend der neoliberalen Epoche, nämlich die Umverteilung von Arbeit zu Kapital und innerhalb der Arbeitseinkommen von Arm zu Reich. Das vielleicht wichtigste Merkmal war, dass die Masseneinkommen nicht mehr mit dem Produktivitätswachstum mithielten. Dadurch nahm der Anteil der Masseneinkommen am Volkseinkommen in allen industrialisierten Staaten deutlich ab, der Anteil der Kapitaleinkommen wuchs gegengleich an. Hätte sich, um mit Marx zu sprechen, die besitzende Klasse der BRD, also die Arbeitgeberschaft, um 1950 nicht dem Wettbewerb mit der DDR-Wirtschaft ausgesetzt gesehen, so hätte sie wohl kaum die Soziale Marktwirtschaft eingeführt. Also war diese, um den Wettbewerb nicht zu verlieren, ein grossartiges Täuschungsmanöver – politisch und sozial zwar ein Gewinn; aber die Wende von 1989 gab das Signal, das wahre Gesicht des Kapitalismus zu zeigen – Volker Pispers zeigt es uns:

die Theorie des Marxismus auch:

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