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4. Geschichte von unten: Wer regiert die Welt? Gegen wen? Antwort: gegen die unterprivilegierten 9/10 der Weltbevölkerung

a) Zwei Bücher haben mich während meines politischen Bewusstwerdens massgeblich geprägt: die Anti-Geschichtsbücher von Bernt Engelmann mit dem „Versuch, Geschichte aus der Position der Beherrschten zu schreiben, immer den Blick auf diejenigen gerichtet, die heute noch die Mächtigen sind“ (Walter Jens) – nämlich Wir Untertanen (1974; Mittelalter bis 1918) und Einig gegen Recht und Freiheit (1975; 1918 bis 1938). In einer Demokratie wie der Schweiz, wo die Mehrheit entscheidet, so dachte ich, muss die Frage legitim sein, wie die Mehrheit im Deutschland des Mittelalters bis 1918 und seither die Willkür ihrer Herrscher erlebte und empfand und wie sie darauf reagierte. Die Bauernkriege und Revolutionen, also der Aufstand der 9/10, der Leibeigenen, der Proletarier und des Kanonenfutters, interessierten mich mehr als die Taten und Untaten der Kaiser, Könige und Fürsten, für die das Volk nur Objekt war/ist, eine formbare Masse, die erst durch die Grossen der Geschichte eine Kontur erhält. Mich faszinierten die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ von Bertold Brecht: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand?“

b) Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“ (George Santayana). Mit dem vorliegenden Buch will ich diese Einsicht ergänzen: Wer die Vergangenheit durch die Propaganda-Brille des Siegers sieht, ist dazu verdammt, die guten Gründe der Verlierer zu ignorieren und die Fehlentwicklungen der Sieger fortzusetzen statt zu überwinden. Die zitierten Fragen bei Brecht lauten demnach heute anders: War denn Lenin nur ein demagogischer Usurpator und der Mörder des glorreichen Zaren, oder war er der Anführer einer Massenbewegung, die genug hatte vom Schuften in Leibeigenschaft und vom Sterben als Kanonenfutter? War Stalin nur ein blutrünstiger Despot, oder war er auch ein weitsichtiger Marschall mit dem geschichtlichen Auftrag, Hitler zurückzuwerfen und ihm das Genick zu brechen? War Mao der grösste Massenmörder der Geschichte, oder war er wie Lenin der Anführer einer Armee, die im Riesenreich China einen fortschrittlichen, egalitären Staat aufzubauen begann, zudem mit der (uns sehr willkommenen) Ein-Kind-Politik?

c) Wenn die jeweils zweitgenannte Version eher der „Geschichte von unten“ entspricht, dann wird der Blick frei für eine Analyse, welche das Spiel der Mächtigen von heute durchschaut, viel eher als wenn wir, wie heute üblich, beim Stichwort Sozialismus resigniert die Schultern zucken. Denn die Mächtigen von heute wollen dasselbe wie damals: die 9/10 dieser Erde in Schach halten und in Abhängigkeit, damit sie weiterhin ihre Privilegien geniessen und Macht und Reichtum vergrössern statt teilen können. Derzeit ist es so, dass die 85 reichsten Personen so viel Vermögen besitzen wie die ärmste Hälfte der gesamten Weltbevölkerung (Studie der britischen Hilfsorganisation Oxfam, publiziert zum WEF 2014).

d) Zu diesem Spiel der Mächtigen gibt es nämlich eine Alternative, und das ist, nach meiner Überzeugung, eine Neuauflage des egalitären Sozialismus, modern und intelligent. Nach Überzeugung renommierter Forscher (Richard Wilkinson, Kate Picket und andere) geht es den Menschen nämlich um so besser, und ihr Leben hat um so mehr Würde, je egalitärer sich ihre Gemeinschaft organisiert und je gleichmässiger der Wohlstand verteilt ist. Das gibt den 9/10 ihre Würde zurück.

Wenn die Macht-Eliten in Wirtschaft und Politik ein solches Ziel hätten, dann wäre es längst erreicht. Denn das Wissen, wie man es erreichen kann, ist längst vorhanden, und auch die Zeit seit 1989 hätte bei weitem gereicht, um es anzusteuern. In Wirklichkeit entfernen wir uns aber immer mehr von einer egalitären und humanen Weltordnung, und die Hürden nehmen zu statt ab – die Zahl der Superreichen und Supermächtigen auch, die das bewusst in Kauf nehmen (vgl. Kap. 30). Kronzeuge dafür ist Papst Franziskus mit seinem Offenen Brief an den WEF-Gründer Klaus Schwab. Dieser organisiert ja das alljährliche Schaulaufen derjenigen, welche die Welt regieren. Der Papst fordert von den Mächtigen mehr Gerechtigkeit und „Entscheidungen, die auf eine bessere Verteilung des Wohlstands ausgerichtet sind.“ Ist er im zitierten Sinne ein Sozialist? Jedenfalls weiss er, gegen wen weltweit regiert wird, er stammt ja aus dem von der US-Politik gebeutelten Lateinamerika.

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