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6. Russische Revolution 1917: Lenin ! Kronzeuge: Ilja Ehrenburg (1891 bis 1967). Und diverse Autoren in: Lenin Reloaded, Für eine Politik der Wahrheit, Hamburg 2014.

a) In fast jedem Geschichtsunterricht hierzulande wird nicht das Schicksal der einfachen Leute doziert (vgl. Kap. 4), sondern das der gekrönten Häupter und ihrer Kriege. In Russland war es Zar Alexander I. und seine Abwehr des Angriffs Napoleons (1812-1815). Zar Nikolaj I. schlug 1825 den Dekabristenaufstand nieder. 1828 folgte der russisch-türkische Krieg, 1830 die Eroberung Polens, 1849 die Intervention in Ungarn und 1850 das Eingreifen in den preussisch-österreichischen Konflikt, und in all diesen Jahren bis 1859 der Kampf mit den kaukasischen Bergvölkern. Russland verlor den Krimkrieg (1853-1856). 1861 wurde zwar für 47 Mio. Bauern die Leibeigenschaft aufgehoben, aber die Landanteile waren, neben dem grossen Gemeindebesitz, zu klein, um sie zu ernähren. Nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1874 begann Russland 1877 erneut einen Krieg gegen die Türkei, mit einigen Gebietsgewinnen. Studenten gründeten die aufklärerische Bewegung Narodnicestvo, und 1883 rief der Marxist Plechanov den Bund der Befreiung der Arbeit ins Leben. Gleichzeitig in jenen Jahren: zahlreiche Judenpogrome, verschärfte Ausnahmebestimmungen, Russifizierung in den Ostsee-Provinzen Estland, Lettland und Litauen. In den Industriezentren (beide Hauptstädte und Donezbecken) stieg die Zahl der Arbeiter von rund 1,5 Mio. um 1890 innert zehn Jahren auf 2,4 Mio. 1895 wurde der Jurist und Marxist Lenin (1870-1924) verhaftet und verbannt; in Ostsibirien vollendete er sein Buch Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, während in Minsk der 1. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Russlands stattfand. Diese war 1903 bis 1906 gespalten in die Bolschewiken (Lenin) und die Menschewiken. Nach dem Russisch-japanischen Krieg brach 1905 eine erste Revolution aus, die aber wegen Zerstrittenheit der Fraktionen niedergeworfen wurde. Der Zar liess den Bruder Lenins aufhängen. 1912 beanspruchten die Bolschewiken die Führung, und Stalin (1878-1953) gelangte ins Zentralkomitee.

Der Erste Weltkrieg, als Fortsetzung des alten Kampfes innerhalb des europäischen Staatensystems, zog auch Russland hinein, weil es sich den Zugang zu den Meerengen erhoffte und Serbien Hilfe versprach. Das Deutsche Reich erklärte Russland am 1.8.14 den Krieg. Russland verlor, und sein Blutzoll betrug 1,7 Mio. neben 5 Mio. Verwundeten und 2,5 Mio. Gefangenen – die des Reichs 1,8 / 4,2 / 0,5 Mio. Alle anderen Kriegsbeteiligten hatten geringere Verluste. Das Zarenreich zahlte mithin etwa den gleichen Preis wie Deutschland (Ploetz, Auszug aus der Geschichte, Würzburg 1974, S. 473). Anfangs 1917 herrschte in Russland eine Hungersnot, und die abgehobene Untätigkeit des Zaren brachte die Duma gegen ihn auf, ein Vorbote seiner Abdankung, Ermordung und der Machtübernahme durch die Bolschewiken (Chronik des 20. Jh. S. 207 ff.) …

b) Ich setze die Geschichte all der Schlachten und Gemetzel in Europa als bekannt voraus (Ploetz, S. 457-465). Auf was es mir ankommt: Die Russische Revolution im Jahr 1917 war deren logische Folge: „Wir, die einfachen Leute, Arbeiter und Bauern, haben eure Kriege und eure Ausbeutung satt. Jetzt nimmt das Proletariat sein Schicksal in die eigenen Hände und regiert von unten nach oben.“ Unter diesem Motto kam Lenin am 16.4.17 aus dem Exil in Zürich nach Petrograd (St. Petersburg/später Leningrad), als Anführer der Bolschewiken. Diese verbündeten sich mit den Sozialrevolutionären, denen es ebenfalls um die damals aktuellsten Grundwerte ging: Brot, Land und Frieden, erlangten also eine Mehrheit, und sie setzten den Austritt Russlands aus dem Weltkrieg durch, mit erheblichen Gebietsverzichten (Polen, Finnland, Ukraine, baltische Staaten) und einer Ablöse-Entschädigung an das Deutsche Reich von 6 Mia. Mark (Chronik S. 231). Per Dekret wurden die Grossgrundbesitzer enteignet und die junge Sowjetunion neu als Räterepublik organisiert. Lenin gab die Ausrichtung vor: „Kommunismus ist Sowjetmacht und industrieller Fortschritt.“ (Chronik S.247) Es folgten die Alphabetisierung und die Neuverteilung des Bodens sowie die Trennung des Staates von der orthodoxen Kirche, welche stets das Zarentum gestützt hatte. Die Gleichstellung von Mann und Frau wurde verwirklicht als selbstverständliches Ideal des Sozialismus, vorgelebt von Lenin und seiner Frau Krupskaja (1869-1939), ebenso die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen: „Wer diese Gleichberechtigung nicht anerkennt und nicht verteidigt, wer nicht jede nationale Unterdrückung oder Rechtsungleichheit bekämpft, der ist kein Marxist, der ist nicht einmal ein Demokrat. Das unterliegt keinem Zweifel.“ (W. I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, Werke, Bd.. 20, S. 1 ff , 6 f.) Es waren dies Errungenschaften, zu denen es unter der alten Ordnung niemals gekommen wäre. 30 Jahre später fanden sie Eingang in die UNO-Charta und das übrige Völkerrecht. Die Gleichstellung von Mann und Frau wurde in der Schweiz erst rund 50 Jahre später verwirklicht. Ich erwähne das, weil bei uns kein Bewusstsein darüber herrscht, wie sehr Russland unter der Führung von Lenin unseren Errungenschaften voraus war (z.B. bei Krankheit, Unfall, AHV). Als ich politisches Bewusstsein erlangte (innerhalb der Ostschweizer Bourgeoisie der 50er und 60er Jahre, vgl. 1. Kap.), galt Lenin als schlimmer Revoluzzer, als Vorkämpfer des illegitimen Umsturzes und des Raubzugs auf wohlerworbenes Eigentum, als Krieger gegen Gott und die Gottesfürchtigen, mithin als Feind, den es zu bekämpfen galt, auch ideologisch: Wehret den Anfängen! Und noch heute schimmert dieses Feindbild durch, wenn von der Russischen Revolution die Rede ist: Kein Bürgerlicher findet für sie lobende Worte oder hat Verständnis, im Gegenteil: „Lenin war ein brutaler Berufsrevolutionär, er hat den Beitritt benachbarter Staaten erzwungen, er hat das Privateigentum abgeschafft, das ist Diebstahl, und er hat Stalin nicht verhindert. Schande über ihn!“ Allein schon dieser Satz stimmt nur bedingt. Privateigentum stammt aus dem Römischen Recht; im Germanischen Recht stand das gemeinschaftliche Eigentum im Vordergrund, die Allmend und die Genossenschaft, sehr zum Wohl der Eid-genossenschaft, übernommen in den Kolchosen und Sowchosen. Und nachdem Stalin im September 1922 die Integration der anderen Sowjetrepubliken in die RSFSR durchsetzte, schrieb Lenin am 30. Dezember 1922, dem Tag der Gründung der UdSSR (Chronik S. 300), voller Entsetzen: „Es scheint, ich habe mich vor den Arbeitern Rußlands sehr schuldig gemacht, weil ich mich nicht mit der genügenden Energie und Schärfe in die Frage der Autonomisierung eingemischt habe, die offiziell, glaube ich, als Frage der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bezeichnet wird. … Offenbar war dieses ganze Unterfangen mit der Autonomisierung von Grund aus falsch und unzeitgemäß. … Eine Sache ist die Notwendigkeit, uns gegen die westlichen Imperialisten zusammenzuschließen, die die kapitalistische Welt verteidigen. Hier kann es keine Zweifel geben… Eine andere Sache ist es, wenn wir selbst, sei es auch nur in Kleinigkeiten, in imperialistische Beziehungen zu den unterdrückten Völkerschaften hineinschlittern und dadurch unsere prinzipielle Aufrichtigkeit, unsere ganze prinzipielle Verteidigung des Kampfes gegen den Imperialismus völlig untergraben.“ (Band 36 S. 590 f). Das war ein gutes Jahr vor seinem Tod am 21.1.24 (Chronik S. 317). Und der oben zitierte bürgerliche Satz enthält den üblichen Denkfehler: er gibt die Beurteilung ex nunc wieder, nicht die allein zulässige ex tunc. Und schliesslich fällt dabei unter den Tisch, dass die USA im gleichen Zeitraum mittels zahlreicher Militär-Interventionen in ihrem Vorhof, den lateinamerikanischen Staaten, mit viel brutaleren Mitteln als Lenin und Stalin für gefügige Vasallen-Regimes sorgten, ohne von Bürgerlichen dafür verurteilt zu werden. Lenin muss also vom zitierten Vorwurf freigesprochen werden.

c) Heute, 100 Jahre später, ist ohnehin eine andere Sicht auf jene Revolutionäre fällig, welche ihre alte Obrigkeit abschüttelten in der Hoffnung auf ein besseres Leben oder jedenfalls auf ein selbstbestimmtes Leben. Hinzu kommt nämlich ein weiterer wichtiger Beurteilungs-Faktor, den der heutige Bourgeois gar nicht weiss: Jene Obrigkeit und deren Gefolgsleute (Weisse Armee, Kosaken usw.) räumten ja das Feld nicht kampflos, und der Sieg der Bolschewiken über sie war zwar blutig. Aber: hätten diese auf den Kampf für ein besseres Leben verzichten sollen, um kein Blut zu vergiessen? Dann wäre weiterhin! ihr Blut vergossen worden. Der Austritt aus dem 1. Weltkrieg, eine Friedens-Tat sondergleichen, wäre unterblieben, ebenso all die erwähnten und viele andere Errungenschaften, denen sich die Kosaken usw. nicht anschliessen wollten. Was damals geschah, darf nicht rückblickend beurteilt oder gar verurteilt werden (ex nunc statt ex tunc; Stalinismus usw.), das wäre ein Denkfehler, sondern nur aus der Perspektive von 1917 ff. mit den blutigen Erfahrungen der vorangegangenen Jahre. „Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerbrechen(Benny Morris über die Vertreibung der Palästinenser und die Staatsgründung Israels). Und die Macher des russischen Omeletts setzten sich durch. Sie hatten ihre „Gewaltbereitschaft“ nicht erfunden, sondern vorgefunden unter dem Zaren-Regime. Die Greuel des Bürgerkriegs, wenn man sie moralisch beurteilen will, gehen also vor allem zu Lasten der Verteidiger der alten Ordnung. Ausserdem: Als Marxist hatte Lenin vorausgesehen, dass auch die alten Militärmächte es nicht einfach hinnehmen würden, dass ein Volk seine militaristische Obrigkeit abschüttelt und sich als Räte-Republik konstituiert, also von unten nach oben. Und so kam es: Die Japaner, Briten und Franzosen fielen ein und kämpften auf der Seite der Weissen Armee, aber auch, im Rahmen ihrer Dutzenden von Militäroperationen gegen unbotmässige Regierungen vorher und nachher, die USA. Diese Koalition wurde angeführt vom britischen Kriegsminister Winston S. Churchill, der den Bolschewismus bereits in der Wiege erwürgen wollte.

d) Wesentlich genauer als in dieser pro-westlichen Plattform Wikipedia wird die Aggression gegen die junge Sowjetunion bei L.L.Matthias (ab S.85; Rowohlt 1964, vgl. Kap. 14) geschildert:

Bereits ein halbes Jahr nach der Oktober-Revolution, am 9.3.18, landete ein Expeditionskorps der Engländer unter dem Befehl von Churchill (1874-1965) in Murmansk, einem eisfreien Hafen in Nord-Russland östlich von Finnland. Diesem Beispiel folgten französische, italienische, griechische, rumänische, serbische, japanische und amerikanische Truppen, insgesamt 900’000 Mann. Als Gegner der Roten Armee kämpften ausserdem 150’000 weissrussische Truppen und mongolische Regimenter unter Admiral Koltschak, einem Monarchisten. In einem Geheimvertrag vom 23.12.17 hatten sich Grossbritannien und Frankreich über die Aufteilung Russlands in Einflusszonen verständigt: den Engländern das Baltikum und die Ölquellen von Baku, den Franzosen das Donezbecken (die heute umkämpfte Ost-Ukraine) und die Krim mit dem Kriegshafen Sewastopol. Aber das revolutionäre Feuer war stärker: Bis 1921, trotz einer verheerenden Dürrekatastrophe (Chronik S. 281), besiegten die Roten unter dem Kommando von Leo Trotzki alle diese Feinde, an vier Fronten. Besonders herb war dieses Kriegsergebnis für den adligen Drahtzieher der Invasion, Winston Churchill. Dass die Kommunisten seiner Allianz eine derart vernichtende Niederlage zufügten, verzieh er ihnen nicht. Im 2. Weltkrieg musste er sie zwar zähneknirschend als Verbündete gegen Hitler akzeptieren; aber er sann auf Rache, und der Zeitpunkt kam 1946, am 5. März, als er in Fulton das Terrain unter den „englisch-sprechenden Völkern“ vorbereitete zur Gründung der gegen die UdSSR und Stalin gerichteten NATO (vgl. die Kap. 10 und 11).

e) Die junge Sowjetunion konnte sich also nicht auf den friedlichen Aufbau des Sozialismus im Innern konzentrieren, sondern musste sich gewaltsam ihrer gewaltbereiten Gegner erwehren. Ich erwähne dieses historische Faktum, um der vielgeschmähten „Diktatur des Proletariats“ einen angemessenen Platz einzuräumen. Die Sowjets haben die Diktatur von unten nach oben nicht erfunden, sondern sie nun der ihnen früher aufgezwungenen Diktatur von oben nach unten entgegengesetzt, und zwar durch Wahlen und föderalistisch (Ploetz S.506). Zur Gesinnung Lenins sei er selbst zitiert: 1990 öffentlich gemacht, vorher geheim gehalten: Lenin, V.I., Brief an den Parteitag, 23. Dezember 1922 bis 4. Januar 1923. Dem stand die Gesinnung des US-Botschafters in Moskau (David R. Francis, 1850-1927) gegenüber, der die Russische Revolution lächerlich fand, eine Frage von Tagen, und für den die Ernennung einer Frau zur Erziehungsministerin disgusting war, widerlich. Seine Berichte waren der Anfang einer systematischen Desinformation: „In Russland ist man frei zu stehlen, zu hungern, zu morden und zu sterben“ (New York Herald Tribune 15.11.25, Matthias S.90). Mein Buch hier hat sich vorgenommen, dieser bis heute andauernden Hysterie etwas entgegenzusetzen. Darum heisst sein erster Untertitel: Die Propaganda der USA will unsere Urteils- und Handlungskraft manipulieren, seit 100 Jahren schon.

f) Nehmen wir einmal an, die siegreichen Bolschewiken hätten die Chance gehabt, den Rosenstrauch eines egalitären Staatswesens, also den Sozialismus in nahezu idealer Form, ungestört aufzubauen, ohne innere und äussere Feinde: wäre er nicht viel besser erblüht als realiter? In der Realität war dieser Aufbau wie erwähnt massiv gestört durch feindliche Kräfte im Innern und von aussen. Unter dem Druck von Planierraupen kann ein Rosenstrauch nicht überleben oder nur, wenn er sich in ein starres und dorniges Bodengewächs verwandelt. Daraus folgt, dass der pathologische und tödliche Disziplinierungszwang unter Stalin auch eine Spätfolge der geschilderten Feindseligkeiten war, eine Spätfolge der reaktionären Frontstellungen gegen den Rosenstrauch: Weisse Armee, Japan, USA, Grossbritannien, Frankreich und später Nazi-Deutschland. Analog zum jetzt wieder diskutierten Historiker-Streit lässt sich sagen, Churchill sei der Auslöser der stalinistischen Verhärtung gewesen …

Immerhin brachte die notgedrungen zähe Distel ein reges Kulturleben hervor, auch und gerade mit internationalem Austausch. Davon zeugt unter anderem die Autobiographie von Ilja Ehrenburg: Menschen Jahre Leben, wenn er die 20er und frühen 30er Jahre schildert. Und jener Original-Stummfilm ist mir unvergesslich, welcher eine nicht abreissende Kolonne von Menschen zeigt, welche schweigend am aufgebahrten Leichnam Lenins vorbeiziehen, als wollten sie sagen: Wir verehren dich und trauern. Du warst einer der Unsrigen. Dein Lebenswerk wird dich überdauern, wir tragen Sorge dazu.

Die heutige junge Linke tut daher gut daran, sich durch den bürgerlichen Geschichtsunterricht nicht davon abhalten zu lassen, dem Sozialismus eine zweite Chance geben zu wollen – ganz im Geist und Bildungsstand von http://www.pw-portal.de/rezension/37776-lenin-reloaded-45689 oder http://www.potemkin-zeitschrift.de/2014/08/29/lenins-zukunft/ .

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