8. Die Nazi-Verbrechen sind dem christlich-kapitalistischen Abendland vorzuwerfen. Es verdiente sogar daran.
a) Auf dem Höhepunkt des strammen Anti-Kommunismus, in den 50er und 60er Jahren, machte die westliche Ideologie einen Salto mortale, eine Geschichtsklitterung: Es gab nicht nur den guten Westblock und den bösen Ostblock sowie das moralische und militärische Wettrüsten, also guter Kapitalismus (freier demokratischer friedlicher Westen) gegen bösen Kommunismus (unfreier autoritärer angriffiger Osten), sondern auch den zum Glück besiegten und überwundenen Faschismus, der in Spanien (Franco, bis 1975), Italien (Mussolini) und vor allem in Deutschland (Hitler) sein Unwesen getrieben hatte. Es gab also drei Polit-Zentren, einen guten und zwei böse.
b) Mit diesem Trick klammerten unsere Nachkriegs-Ideologen aus, dass der Nationalsozialismus samt seinen Schwesterbewegungen in Südeuropa aus dem privatwirtschaftlichen Polit-System hervorgegangen war und dieses auf die Spitze trieb, eben in den Faschismus, mit seinen üblen Begleiterscheinungen: Kolonien, also Verachtung für die Völker im Süden, und deren Ausbeutung; Privateigentum an den Produktionsmitteln, vor allem den militärisch-strategischen (Krupp, Thyssen, IG Farben und viele mehr), sowie Bündnis oder Verflechtung mit den Kirchen, namentlich der katholischen; Rassenhass, rassistische Vernichtungsprogramme/Holocaust sowie Angriffskriege. Karl Marx hatte diese Zusammenhänge knappe 100 Jahre zuvor prophezeit und die Einmündung des Kapitalismus in den Faschismus als quasi zwangsläufig bezeichnet. Die Geschichte nach ihm gab ihm recht: immer noch und wieder herrscht Ausbeutung und Krieg. Der Kapitalismus schafft es nicht, die Probleme dieser Welt zu lösen, er kreiert immer neue, komplexere (vgl. Kap. 30), sodass der Schluss nahe liegt, er sei das Problem.
c) Sowjet-Russland war 1917 aus dieser Zwangsläufigkeit und aus dem Ersten Weltkrieg ausgestiegen, erlitt und gewann den Zweiten Weltkrieg und scharte ab 1945 einen Gürtel von Staaten um sich, gleichsam als verbündetes Bollwerk, wie dies die USA mit Lateinamerika und Südostasien sowie Westeuropa mit den Kolonien vormachten. Der Trick bestand nun darin, den Faschismus und Nationalsozialismus als einmaligen bösen Ausrutscher hinzustellen, sodass die Zweiteilung in guten freien Westen und bösen diktatorischen Osten aufrechterhalten werden konnte, gleichsam als zwei Waagschalen, deren östliche moralisch tiefer liegt. Bei uns im Westen wirkt diese Konnotierung immer noch nach: Wir sind einer Neuauflage des Sozialismus unter anderem deshalb abhold, weil wir immer noch den bösen Faschismus und den bösen real-existierenden Sozialismus als zwei gleichwertig schlechte und zu vermeidende Systeme erinnern und froh sind, im dritten System zu leben, dem freien und guten Westen. Wir sind froh, dass wir den beiden zu vermeidenden Systemen fundamentales moralisches Versagen vorwerfen können, dem freien und guten Westen dagegen keines – von kleinen Ausnahmen und Kollateralschäden abgesehen.
d) Das ist nun aber böse Geschichtsklitterung. Es wird dabei übersehen und übergangen, dass der Faschismus aus dem bürgerlichen, privatwirtschaftlich organisierten Polit-System hervorgegangen ist, auch Kapitalismus genannt, und dessen Charakteristika beibehalten hat: Kolonialismus, Religion (Hitler war Katholik; der Münchner Kardinal Michael Faulhaber bestätigte 1936: „Der Reichskanzler lebt ohne Zweifel im Glauben an Gott“; die Kirchen öffneten ihre Register zur Identifizierung von sog. Halb- und Vierteljuden, frei-denken.ch 2019 S.17), Privateigentum an den Produktionsmitteln (namentlich Rüstungsindustrie), Nationalismus (also Verachtung und Vernichtung der anderen, insbesondere der Juden und der Farbigen), Block-Denken und Lust auf Krieg. Demgegenüber strebte die Sowjetunion andere Werte an: keine Ausbeutung von Kolonien, Atheismus, verstaatlichte oder genossenschaftliche Produktionsmittel, Internationalismus, Gleichwertigkeit der Rassen, Farben und Geschlechter sowie Weltfrieden. Man kann das alles nachlesen und sich, wenn man redlich und unvoreingenommen ist, davon berühren lassen. Und alle wissen: Im Nationalsozialismus wurden Juden von Christen ermordet.
Die Geschichtsklitterung besteht nun darin, dass sich das westliche, also nach wie vor privatwirtschaftlich organisierte Polit-System von seinem politischen Abkömmling, dem Faschismus, moralisch distanziert, wie wenn es damit nichts zu tun hätte. Dabei paktierte auch im Faschismus die Kirche mit der Hochfinanz und Schwerindustrie, und die Wertegemeinschaft des christlichen Abendlandes distanzierte sich nie von den genannten Wurzeln des Faschismus. Es waren Christen, welche die Konzentrationslager einrichteten, Rassenhass predigten und Angriffskriege führten, im Bündnis mit Hochfinanz und Rüstungsindustrie – eigentlich wie heute immer noch: Seit der Wende (vgl. Kap. 29) erleben wir Neo-Kolonialismus und Neo-Liberalismus, also Arm-Halten der Farbigen und der (gesellschaftlichen) Ränder, Satiren und Kampfansagen gegen die Moslems statt gegen die Superreichen, Gehorsam gegenüber dem Military-Industrial Complex, kriegslüsternes Hetzen gegen das rohstoffreiche Russland. Es geht also ungehemmt weiter wie in den Zeiten bis 1945 – nein: gehemmt, besser getarnt als damals. Die geschichtliche Linie führt aus dem 19. Jahrhundert über den Nationalsozialismus und den Kalten Krieg (vorübergehend leicht abgeschwächt während der sog. Sozialen Marktwirtschaft, vgl. Kap. 25) bis in die Gegenwart, indem die genannten Wurzeln immer noch die gleichen sind und andauernd Krisen produzieren.
e) Daraus folgt, dass sich das christlich-kapitalistische Abendland die Verbrechen des Faschismus als die eigenen moralisch anrechnen und vorwerfen lassen muss. Es kann diese nicht als einmaligen Ausrutscher hinstellen, mit dem es nichts zu tun hat. Für diese Verbrechen ist die christlich-kapitalistische Wertegemeinschaft voll verantwortlich, sie liegen letztlich auf deren Linie (homo homini lupus), bis hin zur fabrikmässigen Austilgung von Millionen Menschen und Angriffskriegen mit Dutzenden Millionen Toten, fremden und eigenen. Die Hochfinanz Europas und Amerikas hat Nazi-Deutschland finanziert und damit (auch an den KZ) Geld verdient, wie mittlerweile erforscht und bekannt ist.
f) Demgegenüber sind die Verbrechen der Sowjetunion und Chinas ganz anders gelagert. Selbst vom strammsten Antikommunisten habe ich nie gehört oder gelesen, dass dort wie in Auschwitz fabrikmässig Menschenleben ausgelöscht wurden. Die Präsidenten Polens und Deutschlands haben recht, wenn sie am 70. Jahrestag der Öffnung jenes Vernichtungslagers durch sowjetische Soldaten sagten, diese Verbrechen seien nicht zu überbieten und dürften niemals relativiert werden, auch durch Zeitablauf nicht. Daraus folgt, dass die Verbrechen der UdSSR und Chinas sehr wohl relativiert werden dürfen, also moralisch als weniger schlimm einzustufen sind als jene des Abkömmlings des christlichen Abendlandes. In der Tat: Die Sowjetunion hat keine Kriege begonnen, sondern wurde angegriffen und hatte Dutzende Millionen Tote zu beklagen; der Krieg auf finnischem Boden war ein Flankenschutz und wäre ohne Hitlers Angriff unterblieben, ebenso die Besetzung Osteuropas und Ostdeutschlands. Stalin wurde zwar moralisch oft gleichgesetzt mit Hitler, u.a. wegen des Nichtangriffs-Pakts mit Gebietsaufteilungen. Nüchtern betrachtet war das aber ein geschichtlich notwendiger Schachzug, um für die noch nicht genügend gerüstete Sowjetunion Zeit zu gewinnen bis zum erwarteten Angriff Hitlers (vgl. Kap. 7). Es ist ein Trick der westlichen Geschichtsschreibung, dem britischen Premier Chamberlain nur Naivität vorzuwerfen, als er Hitler glaubte – Stalin aber kriminelle Energie zuzuschreiben, obwohl dieser sein Volk schützen wollte. Was Stalin und die nachfolgenden Führungsgremien im Inland an Untaten verübten, steht moralisch niemals auf der gleichen verbrecherischen Stufe wie diejenigen Hitlers im In- und Ausland. Es ging dort um eiserne Disziplin angesichts des bevorstehenden Angriffskrieges aus dem Westen und später angesichts der Umzingelung des Sowjetblocks durch die NATO (vgl. Kap. 11 und 16-19). Zudem hatten die Russen aus der Zeit der Zaren eine andere Mentalität geerbt als diejenige eines modernen humanistischen Sozialismus, eine recht unzimperliche. Wir dürfen ja nicht moralische Massstäbe von heute auf eine Zeit und ein Land vor 100 Jahren anlegen. Was Stalin und seinen Nachfolgern vorzuwerfen ist, muss eher ihrer geschichtlich bedingten Mentalität zugeschrieben werden als der Theorie und Praxis von Sozialismus und Kommunismus.
g) Aus dem Gesagten folgt, dass aus der Geschichte der Hitler-Stalin-Zeit kein stichhaltiger Einwand gegen die Feststellung erhoben werden kann, die Sünden des christlich-kapitalistischen Abendlandes und seiner Ausgeburt, des westeuropäischen Faschismus, seien weitaus gravierender als diejenigen des Sowjet-Systems. Es muss ja auch noch einbezogen werden, dass die Vereinigten Staaten damals ein Apartheid-Regime waren, welches zudem das restliche Amerika analog zu Kolonien beherrschte und ausbeutete (vgl. Kap. 14), und dass Grossbritannien und Frankreich, nebst Belgien, Italien und Portugal, ihre Kolonien bestialisch unterdrückten. Beides kann dem damaligen Sowjetblock nicht angelastet werden. Im Glashaus sassen auch all die rechtsextremen Militär-Diktaturen von Lateinamerika über Afrika bis nach Südost-Asien, gehätschelt von den NATO-Staaten, welche sich mit Zähnen und Klauen gegen die Befreiungsarmeen ihrer Kolonien wehrten. Das Sowjet-System hat sich nichts dergleichen vorzuwerfen – nicht einmal den sog. Ungarn-Aufstand und die Mauer in Berlin (vgl. Kap. 16 und 17). Solches wäre übrigens in einem unipolaren linken Welt-System nicht nötig gewesen, während solche Hotpoints in einem fast unipolaren rechten System, das wir heute haben, an der Tagesordnung sind: Israel/Palästina, Serbien, Afghanistan, Irak (2x), Somalia, Libyen, Mali, Syrien, Ukraine, Jemen, Griechenland usw. Wie gesagt: das christlich-kapitalistische Polit-System generiert laufend neue Krisen und Kriege, ja hungert nach solchen, weil seine inneren Widersprüche das Problem dieser Welt sind (vgl. Kap. 30 und 49).