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7. Stalin wusste: „Hitler wird uns angreifen“ – und rüstete auf, um die Sowjetunion zu verteidigen, mit eiserner Hand. Nicht die westlichen Alliierten brachen den Nazi-Armeen das Genick, sondern die UdSSR unter Stalin. Und was war der Dank des Westens? Strammer Anti-Kommunismus – während viel mehr (farbige) Menschen in den Kolonien und in der Rassentrennung schmachteten als Russen im Gulag, und länger.

Für mich gehört es zur intellektuellen Redlichkeit, über Stalin anders denken zu dürfen als üblich, das heisst ohne Tabu und Scheu, mit historisch-wissenschaftlicher Neugier und Neutralität, abseits der hiesigen Meinungs-Diktatur. Wer das nicht aushält, sollte dieses Kapitel überspringen …

Stalin löste am 15.5.43 die Kommunistische Internationale auf, um den Westalliierten die Sorge vor einer kommunistischen Weltrevolution zu nehmen; Anliegen der UdSSR sei allein, den „grossen vaterländischen Krieg“ zu gewinnen. Chronik des 20. Jh. S. 603
Hast du das gewusst?

a) Während des Kalten Krieges (1945 bis 1990), Rechts gegen Links und umgekehrt, ging es den Rechten darum, die Umsturzpläne der Linken systematisch zu torpedieren. Dazu gehörten zahllose Militär-Interventionen der USA weit über Lateinamerika hinaus, insbesondere in Vietnam (vgl. Kap. 20), und der Westeuropäer in ihren Kolonien sowie der NATO in Europa. Der Westen wollte den Kalten Krieg natürlich nicht nur auf dem Schlachtfeld in der sog. Dritten Welt gewinnen, sondern auch und vor allem in den Köpfen und Herzen der Linken in der Heimat, mittels Propaganda im weitesten Sinn. Und weil sich zahllose politisch Interessierte in der Nachkriegszeit nach Dauer-Frieden sehnten und sich weit in die Mitte hinein eine gewisse Dankbarkeit, ja Begeisterung der Sowjetunion gegenüber breit machte (in den USA waren 55% der Bevölkerung für eine Nachkriegs-Allianz mit der Sowjetunion, Matthias S.114), verlegten sich die Strategen der Nachkriegs-Ideologie darauf, aus dem ehemaligen Verbündeten Stalin (1878-1953) ein Feindbild zu machen. Ich wuchs in jener Umdeutung auf (vgl. Kap. 1) und hielt dieses Bild für wahr. Es wurde während des ganzen Kalten Krieges und wird noch heute überwiegend für wahr gehalten: Stalin ist der zweitgrösste Massenmörder der Geschichte, nach Hitler und gefolgt von Mao, so lautet in etwa sein Ruf. Seine Schauprozesse, Säuberungen und Massenerschiessungen/-deportationen (Gulags) wurden zum Synonym sozialistischer Herrschaftsform. Damit war die revolutionäre Linke in Westeuropa und den USA schachmatt; salonfähig war bestenfalls die Sozialdemokratie, sofern sie dem sog. Klassenkampf abschwor und mit den Bürgerlichen gegen den Kommunismus wetterte. Nach dem Ende des Kalten Krieges (1990) mündete diese Geschichtswahrnehmung in die Ideologie: Das Experiment des Sozialismus mit seiner Gewaltherrschaft und Planwirtschaft ist gescheitert und gehört auf den Müllhaufen der Geschichte (US-Präsident Ronald Reagan, vgl. Kap. 30d), es lebe die Freiheit, der freie Markt! Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Umdeutung des Alliierten Stalin zum Feind des Westens, zum Feind westlicher Werte wie Demokratie, Pluralismus, Wirtschafts-, Presse- und Religionsfreiheit.

b) Wenn sich die politisch interessierte Jugend heute nach Alternativen zum herrschenden Wirtschafts- und Polit-System umschaut, weil sie dieses als verheerend und nicht zukunftsfähig einstuft, dann scheidet der Sozialismus als Alternative meistens sofort aus: „Der war verbrecherisch, inhuman und ineffizient.“ Nach meiner Wahrnehmung plappert sogar die linke Jugend ein Feindbild nach, welches die westliche Propaganda während des Kalten Krieges und danach in die Köpfe und Herzen gepflanzt hat, als wäre es wissenschaftlich gestützte Geschichtsschreibung. Als ich eine gebildete Bekannte kürzlich unvorbereitet fragte, was ihr zu Stalin spontan in den Sinn komme, sagte sie „Massenmörder“. Und dieses Geschichtsbild teilt sie wohl mit 95% der Bevölkerung. Ein bekannter linker Dokumentarfilmer lehnte mir einen Auftrag „Wir papageien ein falsches Stalin-Bild“ sofort lachend ab; er wolle seinen Ruf nicht gefährden. Wenn ich mich getrauen würde, dieses Geschichtsbild als Produkt der westlichen Propaganda zu bezeichnen, bekäme ich wohl überall ein mitleidiges Lächeln und ein ungläubiges Staunen über meine fehlende Bildung. Wäre ich noch berufstätig, so wäre ich meinen Job alsbald los.

c) Daraus folgt, dass das Ideal des Sozialismus nur dann eine zweite, eine faire Chance auf Umsetzung hat, wenn das verheerend einseitige Bild von Stalin und überhaupt von der Sowjetunion und dem damaligen „Ostblock“ revidiert, ergänzt und in den Kontext der damaligen Zeit gestellt wird, wenn Stalin also ausgewogener gewürdigt und insbesondere der gedankliche Link aufgelöst wird zwischen dem Experiment des real existierenden Sozialismus und dem geschichtlichen Verlauf mit seinen Schatten.
Ich möchte dazu beitragen, dass dieser Link entschlackt wird: Stalin stand in einer geschichtlichen Mission, und seine Verbrechen, sofern man ihn solcher überführen will, sind nicht dem Sozialismus anzulasten !! Zudem waren die des Westens in jener Zeit ungleich grösser, und deshalb ist der genannte Link jenseits aller Fairness. Das christliche Abendland muss sich das Wort Jesu’ gefallen lassen: Wer unter euch (westlichen Christen) ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein. Und: Stalin hat einen besseren Ruf verdient !

d) Was ist es, das Stalin als verbrecherisch und „typisch sozialistisch“ vorgeworfen wird?

a. Die Zwangskollektivierung als typisches Beispiel linker Diktatur
b. Die Säuberungen und Schauprozesse, v.a. die sog. Moskauer Prozesse
c. Der Archipel Gulag
d. Die Deportationen
e. Die forcierte Industrialisierung und der Hitler-Stalin-Pakt
f. Der Angriff auf Finnland und die Einverleibung der baltischen Staaten
g. Die Expansion nach Mitteleuropa und der Eiserne Vorhang, die DDR
h. Die Blockade von Berlin.

Es sind im wesentlichen diese Vorwürfe, welche bei vielen Marxisten/Kommunisten dazu geführt haben, sich von der Sowjetunion abzuwenden und deren Nachkriegs-Politik in den Rücken zu fallen, ja diese zu bekämpfen.

e) Allen, namentlich den jungen politisch Interessierten möchte ich zurufen: Wie auch immer ihr bisher über Stalin gedacht habt: Befasst euch mit dem Buch von Ludo Martens: „Stalin anders betrachtet“. Ein Rezensent schreibt:

„Das Bild, das wir heute von Stalin haben, rührt von Chruschtschows Verunglimpfungen beim 20. Parteitag 1956 her. Sie sind Lügen, die Chruschtschow zur Machtsicherung benutzte. Ludo Martens schafft es in diesem Buch, mit wirklich jeder einzelnen Lüge abzurechnen.“

Ich unternehme es hier ebenfalls, Stalin anders zu betrachten:

Zu a. Das Vorhaben der Bolschewiken in den späten 1920er Jahren war – neben der Industrialisierung in einem ersten Fünfjahresplan – die Ertragssteigerung der Landwirtschaft, und zwar durch Beseitigung der Klasse der Landbourgeoisie und der Grossgrundbesitzer sowie durch Kollektivierung. Das wurde wirtschaftlich und politisch ein Erfolg.
Die Kritik im Kalten Krieg und seither prangerte denn auch nicht den ökonomischen Erfolg an, sondern den Zwang. Sie ergreift also Partei für die entmachteten Feudalherren und enteigneten Kulaken, also gegen die Masse der Bauern und Arbeiter, die von der Kollektivierung profitierten. Sie wendet das heutige Ideal der strikten Demokratie, der behutsam gewaltfreien Kommunikation sowie des Liberalismus und der Unantastbarkeit von Land-Eigentum auf die damaligen Zeiten und Umstände an.
Das passt wie eine Faust aufs Auge. Was hätte dieses Ideal dem damaligen Bauern in seiner würdelosen Abhängigkeit gebracht, den Millionen von Bauern? Allein schon mit der Unmutsäusserung über unerträgliche Zinslasten oder unbezahlte Löhne hatte er sein Leben riskiert! Solche unsägliche Repression kennen in Lateinamerika die Gewerkschaften und die Landlosen-Bewegung auch heute noch. Damit haben die Bolschewiken vor 100 Jahren ohne Skrupel aufgeräumt. Sie waren geprägt von der wenig zimperlichen Mentalität der Zaren-Zeit und hatten genug von den Verbrechen der Oberschicht. Bertold Brecht umschrieb später diese Entschlossenheit in der Ballade vom Wasserrad: dass wir keine andern Herren brauchen, sondern – keine.“ – Wer sich in der Geschichte des Abendlandes und Lateinamerikas mit der Niederwerfung der Bauern-Aufstände beschäftigt, kann sich über die harte Verurteilung der sowjetischen Kollektivierung durch Kalte Krieger nur wundern.

Zu b. Zur Zeit der Säuberungen und Schauprozesse war Hitler bereits an der Macht. Als Marxist hatte Stalin zweifellos Hitlers „Mein Kampf“ gelesen und wusste, dass dieser plante, die Sowjetunion zu überfallen und zu erobern. Daraus zog er den logischen Schluss, dass die von ihm geführte Nation nicht in ein freiheitlich-demokratisch-pluralistisch-rechtsstaatliches System nach heutigen Vorstellungen übergeführt werden konnte, sondern ins Gegenteil. Nur mit eiserner Disziplin und unbedingter Wehrfähigkeit hatte die junge Sowjetunion eine Chance, den zu erwartenden Angriff der Nazis und den Zugriff der Herrenrasse auf neuen Lebensraum im Osten abzuwehren. Um es im Rückblick vorwegzunehmen: Dieses Kalkül war zwar verlustreich, aber erfolgreich, denn die Rote Armee brach der Deutschen Wehrmacht im Osten Europas das Genick: in der Schlacht um Stalingrad anfangs 1943. Der Preis für die Abwehr der Hitler-Armeen war sehr hoch: Eine zweistellige Millionen-Zahl von Toten und Verwundeten, ein verwüstetes Land und ein wirtschaftlich-kultureller Rückschlag um mindestens ein Jahrzehnt. Aber der Erfolg konnte sich sehen lassen: Die UdSSR vermochte ihren Einflussbereich bis nach Mitteleuropa auszudehnen, sich einen Kreis von Pufferstaaten zuzulegen und insbesondere das kriegslüsterne Deutschland bis zur völligen Ungefährlichkeit zu demilitarisieren – wenigstens zu einem Drittel (DDR) und für einige Jahre. Wer will es also, übers Ganze gesehen, dem gewieften Strategen Stalin verdenken, wenn er die dafür notwendige Disziplin mit eiserner Hand durchsetzte? Ich behaupte, dass Russland ohne diese eiserne Disziplin den Krieg gegen Nazi-Deutschland verloren hätte. Wo stünde Europa dann? Das sozialistische Experiment wäre zwar erfolgreich abgewürgt worden, aber um den Preis des Faschismus von Oslo bis Rom, vom Ural bis zum Atlantik. Es erscheint mir höchst fraglich, ob die USA und Grossbritannien die Nazis ohne Russland hätten niederringen können – ja ich zweifle, ob sie es dann hätten niederringen wollen. Denn kapitalistisch waren ja alle drei, und es wäre kein Krieg der Systeme geworden, sondern ein Krieg der Mächte wie gehabt. – Und die Schweiz ?? Viele waren dem Russen dankbar für seinen Sieg – bevor die antikommunistische Hetze begann.

Wir kennen die Methoden, mit denen Stalin diese eiserne Disziplin oder Gefolgschaft erlangte, unter den Namen Schauprozesse (ab 1928, vier Moskauer Prozesse ab 1936), Säuberungen (etwa ab 1930), und Grosser Terror (1936 bis 1938). Die Anzahl der Opfer insgesamt ist siebenstellig. Als Auslöser für den Anstieg der Prozesse, Urteile und Hinrichtungen gilt die Ermordung des KP-Chefs von Leningrad Sergei M. Kirow am 1.12.34. Stalin soll vor Wut geschäumt und unerbittliche Rache geschworen haben, welche sich ausdehnte auf alle, die dem Machtzentrum als Klassenfeinde, Verräter und Konterrevolutionäre erschienen. – Aktueller Einschub mit Analogie: Der türkische Präsident Erdogan liebäugelt mit der Todesstrafe gegen die Gülen-Anhänger und führt drastische Säuberungen durch ohne jede äussere Bedrohung, er ist wichtiger Verbündeter in der NATO und kriegt natürlich keine Rüge aus den USA, die ja die Todesstrafe seit jeher praktizieren …

Die Verfolgungen und Verbannungen nahmen eine Eigengesetzlichkeit an, bis Stalin selber 1938 befahl, sie zu reduzieren. So jedenfalls lautet das gängige Narrativ. Ich kann es nicht beurteilen, sondern nur feststellen, dass das Ausmass und die Härte des Elends umstritten sind. Offen muss auch die Frage nach Schuld oder Unschuld der Opfer bleiben. Während des Kalten Kriegs hat die westliche Propaganda jedoch einseitig mit dem Finger auf Stalin gezeigt, ohne vor der eigenen Tür zu wischen. Die nachvollziehbare Angst des Regimes vor den Nazis blieb unerwähnt, ebenso die Entstalinisierung aus eigener Initiative. Ich erinnere mich an eine Karikatur im Nebelspalter etwa 1957, welche als Sinnbild des östlichen Systems einen Baum und einen Erhängten zeigte, während das Sinnbild für den freien Westen ein Vater mit fröhlichem Kind unter lachender Sonne war – und nicht etwa ausgepeitschte Eingeborene in einer westeuropäischen Kolonie in Afrika oder einen massakrierten Indianer.

Als Erklärungsversuche für den Grossen Terror zirkulieren vor allem Thesen, welche ihn als typisch für sozialistische Diktaturen bezeichnen. Mir steht näher, was die deutsche Historikerin Ingeborg Fleischhauer sagt: Sie sieht den Massenterror der Säuberungen als Funktion der internationalen Situation der Sowjetunion. Er könne nur vor dem Hintergrund der wachsenden Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland erklärt werden, das durch seinen Nichtangriffspakt mit Polen im Januar 1934 das Gleichgewicht der Kräfte in Osteuropa zerstört habe. Stalin sei – nicht anders als die führenden Politiker der Westmächte – in den Jahren 1936 bis 1938 über den deutschen Machtzuwachs zunehmend besorgt gewesen und habe daher zeitgleich versucht, eine möglichst große Homogenität in der Partei und der sowjetischen Gesellschaft durch die Unterordnung unter seinen Willen zu erzeugen. In dieser Perspektive könnten die Maßnahmen Stalins primär unter präventiven und defensiven Gesichtspunkten erfolgt sein. – Wenn es indessen Paranoia war, was viele Historiker vermuten, dann ist sein Handeln umso weniger ein Resultat marxistischer Gesinnung – sonst müsste die Paranoia des Katholiken Hitler zu analogen Schlüssen verführen …
Wer nun aber die Säuberungen und Hinrichtungen in der Stalin-Zeit dem Wesen des Kommunismus zuschreiben will, der müsste konsequenterweise alle Verbrechen der Europäer zuhause und in den Kolonien sowie der US-Amerikaner bei ihrer Rassentrennung und Landnahme (
sind die Indianer-Reservate auch GULAGS ??), in Lateinamerika und weltweit in ihren zahllosen Kriegen dem Christentum und dem Kapitalismus zuschreiben – und sofort deren Abschaffung fordern.

Zu c. Im Kalten Krieg war das Wort Gulag ein Kampf-Vorwurf gegen den Ostblock – und das ausgerechnet seitens der USA, welche sich, nach den grössten ethnischen Säuberungen der Weltgeschichte, von den Massakern an den Indianern und von deren Einpferchen in Reservate nie distanziert haben, sondern sie als gloriose Eroberung feiern, und welche die Sklaverei auch nach deren Abschaffung weiterführten, nämlich als Rassentrennung; ein Kampf-Vorwurf sogar seitens der europäischen Kolonialmächte, welche zeitgleich in Afrika und Südostasien gegen die Eingeborenen wüteten und die deren Unabhängigkeit mit erbitterter Waffengewalt zu verhindern suchten. – Der Kampfbegriff wurde durch das 1973 erschienene Buch von Alexander Solschenizyn populär. Dieser hatte schon 1962, mit Erlaubnis von Chruschtschow, Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch veröffentlicht, eben ein Tag im Gulag , wofür er 1970 den Nobel-Preis erhielt. Das beweist die Abkehr der Staatsführung von dieser Straf-Methode schon zehn Jahre vor 1973. Im Westen wurde aber Der Archipel Gulag als wichtiges politisch-literarisches Zeitzeugnis betrachtet, wie wenn dieses System gegenwärtig gewesen wäre – dabei wurde es mit Stalins Tod 1953 beendet, und die Nomenklatura distanzierte sich ab 1956 davon. Der Titel wurde namensgebend für die Straflagerregion der Sowjetunion, namentlich unter Stalin. In Amerika und Westeuropa verstärkte dieser umfassende Bericht, obwohl er Geschichte beschrieb, die Ablehnung des kommunistischen Systems sowjetischer Prägung und des Kommunismus überhaupt. Wegen dieser Wirkung war der KGB gegen die Veröffentlichung und wies den Autor, als er sich nicht davon abbringen liess, aus – im Kalten Krieg bitte keine Nestbeschmutzung, die Yankees dulden das auch nicht! – Es gibt übrigens Quellen/Zeitzeugen-Berichte, welche die Schilderungen Solschenizyns schlicht als Lügen oder jedenfalls masslose Übertreibungen bezeichnen: https://slavyangrad.de/2015/08/04/die-verlogenheit-des-a-i-solschenizyn-wofuer-er-den-archipel-gulag-schrieb-wie-ale . Damit sollte sich jeder auseinandersetzen, der auf Solschenizyn als Zeitzeugen abstellen will.  – Aus heutiger Sicht, wenn sich die politische Jugend über Urteile aus jener Zeit klar werden will, ist zunächst zu präzisieren, dass ein Gulag ein Besserungs-Arbeitslager war und dieses System schon vor 1917 zur russischen Tradition gehörte, von den Klassikern wie Tolstoi beschrieben. Aber auch die Spanier und Südafrikas Buren sowie die Deutschen vor Hitler kannten solche Konzentrationslager. Lenin liess dieses System nach einem Attentat auf ihn im Herbst 1918 legitimieren. Der Strafzweck war Umerziehung durch Arbeit – wie in unserem Jugendstrafrecht auch. Aus Straffälligen sollten Bürger werden, welche die Gesellschaft und den Staat der Sowjetunion begrüßten. Maxim Gorki lobte 1929 solche Lager und Sondersiedlungen, und dem Lob über Zwangsarbeit bei grossen Kanalbauten schlossen sich Tolstoi und andere Schriftsteller an (Stettner, Archipel GULag; Kizny, Applebaum).

Unter Stalin, in den Jahren 1930 bis 1953, vervielfachte sich die Anzahl Krimineller und politischer Häftlinge in den Gulags auf gut zwei Mio. Grob geschätzt war das ein Hundertstel der Bevölkerung – wie heute in den USA auch, ohne dass die USA kriegsbedroht wären. Die Zahl der an den Strapazen Verstorbenen ist nicht bekannt, Schätzungen nennen 2,7 Mio. Insgesamt hatten in den genannten Jahren etwa 30 Mio. Inhaftierte Zwangsarbeit zu verrichten. Über die Jahre entwickelten sich unterschiedliche Lager- und Siedlungstypen: Es gab Transitlager, Arbeitslager, Straflager, Frauenlager, Lager oder „Arbeitskolonien“ für Kinder und Jugendliche, Lager für Invalide, Speziallager für wissenschaftliche Forschungen, Prüf- und Filtrationslager, Sondersiedlungen, Arbeitssiedlungen und mehr. Die Klassifizierung des Einzelnen erfolgte nach Strafmaß, Beruf und Arbeitsfähigkeit. Grundsätzlich erhielt jeder Häftling eine Aufgabe und eine Norm, welche die Produktivitätsziele vorgab. Die Gulags mit ihrer Zwangsarbeit wurden Bestandteil der staatlichen Wirtschaftsplanung und Industrialisierung.

Sie unterschieden sich demnach deutlich von den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten: Letztere hatten die systematische Vernichtung ihrer Insassen vor, nicht deren Umerziehung. Ich halte deshalb den sog. Historiker-Streit, der nach dem Tod von Ernst Nolte jetzt wieder diskutiert wird, für obsolet: Hitler schrieb Mein Kampf , den er ja dann verwirklichte, in den Jahren 1924/26, also lange vor den Ereignissen in der UdSSR, die Nolte als Beweggründe für die NS-Verbrechen hinstellte. So einfach war und ist es …

Die von Solschenizyn befragten Überlebenden prangerten selbstverständlich das erlittene Elend an, das riesig gewesen sein muss. Den Anlass zur Inhaftierung und Verurteilung sucht man dort freilich vergebens, alle waren unschuldig. Ich bestreite allerdings nicht, dass die Anzahl, die Härte der Haft- und Arbeits-Bedingungen sowie die Mortalität der Insassen solcher Gulags in keinem Verhältnis standen zum Anlass. Der Nachfolger +Stalins, Nikita Chruschtschow, rechnete denn auch am XX. Parteitag 1956 in einer stundenlangen Geheim-Rede mit dem „stalinistischen Terror“ ab und beendete ihn. Wer diesen also heute noch dem Sozialismus als Systemfehler vorwerfen will, sollte sich daran erinnern, dass die Nachfolger Stalins diesen Link längst widerlegt haben, mit Amnestien und Rehabilitationen, im Unterschied zu den USA mit ihren Indianer-Reservaten oder im Unterschied zu den Kolonialmächten. Auch können sich die nach wie vor aktiven Kalten Krieger nicht vorstellen, was es in den damaligen Wirren und Kriegszeiten bedeutete, dieses umzingelte Riesenreich unter Disziplin zu halten (vgl. unten zu e). Es ging um Leben und Tod einer ganzen Nation, auch um Leben und Tod der Führungsriege, anders als im fernen Amerika oder England. Das Sowjetvolk und dessen Führung, im Würgegriff der Deutschen und Japaner, hatte Angst – vor äusseren und inneren Feinden, und Angst macht hart und unzimperlich. Der Sieger über Hitler wurde jedenfalls vom Grossteil der Sowjetbevölkerung voller Verehrung als Väterchen Stalin bezeichnet, bevor die Hetze gegen seinen Ruf einsetzte. Ludo Martens bezeichnet Solschenizyns Buch als Sprachrohr der zu Recht Verurteilten und viele von Chruschtschow vorgebrachte Anschuldigungen gegen Stalin schlicht als Lügen, mit denen dieser Nachfolger seine eigene Macht zementieren wollte. Wer also den Terror des Stalinismus anprangert und diesen Staatsmann als Massenmörder beschimpft, ohne „Stalin anders betrachtet“ gelesen zu haben, disqualifiziert sich als moralisch arrogant. Das gilt insbesondere für die zeitgleichen Regisseure des Kalten Krieges, welche in Lateinamerika oder Vietnam, in den Kolonien und Protektoraten, Gräuel zu verantworten haben, die nie geahndet oder entschädigt wurden. Ein Paradebeispiel für diese Haltung ist auch das vom Westen gehätschelte Israel, welches die zeitgleiche Vertreibung von mindestens 800’000 Palästinensern um 1948 nicht einmal anerkennt, geschweige denn entschädigt www.israel-in-palaestina.ch .

Und es gilt z.B. für Ulrich M. Schmid, welcher die Erinnerung an die bolschewistischen Verbrechen wachhält und im patriotisch aufgerüsteten Russland die Gedächtniskultur beklagt, welche sie an den Rand drängt (NZZ 26.8.16 S.35). Es gebe keine Einsicht in die radikal verbrecherische Natur des Sowjetsystems. Aha, 1917-1991 radikal verbrecherisch? Sogar als Perestroika und Glasnost aufkamen? Dabei wollte Schmid doch nur über die sowjetischen Gulags schreiben, also 1923 bis etwa 1953 (Tod Stalins), 30 Jahre. Er schildert dann immerhin den wechselhaften Diskurs im Russland der Folgejahre bis heute, beklagt aber, dass dieser die Zeit der Gulags grosso modo als nationale Tragödie erinnere und nicht, wie Schmid es gerne sähe, als systemimmanentes Verbrechen.

Ja verdammt nochmal: Dann müsste die zeitgleiche europäische Kolonialpolitik ebenfalls als strukturelles Verbrechen eingestuft werden, müsste die rassistisch aufgeheizte Arroganz und Gier der Kolonialmächte ebenfalls zum Schluss führen, wir hätten uns radikal abzuwenden vom Motiv und ideologischen Hintergrund der Kolonialisierung, dem christlichen Missionieren und Vereinnahmen: Auch wenn ihr werdet wie wir, wir plündern euch trotzdem aus! Haben wir das hinter uns gelassen, so wie Russland die Gulags hinter sich liess? Nein, im Gegenteil: Wir Europäer plündern weiterhin, nur besser getarnt und ohne Einsicht. Also steht es uns nicht zu, den russischen Gulag-Diskurs zu kritisieren. Dieses Thema dient ohnehin dem einseitigen pro-westlichen Empörungs-Management (vgl. Kap. 20), welches eine Wiedererwägung des Sozialismus im Keim ersticken will, indem es diese Vision mit den Gulags gleichsetzt.

Zu d. Natürlich hatte ich von den Deportationen in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gelesen und gehört, sie wurden im Kalten Krieg voller Abscheu gegen die Kommunisten erwähnt. Ich hielt sie für einen Schatten, den sich einseitig nur der real existierende Sozialismus in Osteuropa und Sibirien anrechnen lassen müsse. Um so erstaunter war ich bei der Recherche zu diesem Essay, dass Wikipedia unter dem Suchbegriff Deportation zahlreiche Länder aufzählt, welche Deportationen vornahmen, im Kalten Krieg dann aber mit diesem einschlägigen Vorwurf nur gegen die Sowjetunion hetzten: Deportationen von Strafgefangenen nahm nicht nur letztere vor (in die Gulags und nach Sibirien), sondern auch Grossbritannien nach Australien, Frankreich nach Französisch-Guyana und Nord-Italien in die Basilicata (Süd-Italien). Deportationen im staatlichen Konsens, also Umsiedlungen, gab es weltweit; die grösste bei der Teilung Indiens und der Gründung Pakistans. Gegen Ende des 2. Weltkriegs deportierte die Sowjetunion Hunderttausende deutsche Zivilpersonen zu Zwangsarbeit in ihre Gulags, was die übrigen Alliierten (USA, GB und F) in Jalta ausdrücklich legitimierten. – Im Nordkaukasus gab es schon unter den Zaren eine lange Tradition des Widerstands gegen Moskau. Wegen Rebellionen und Kollaboration mit dem deutschen Feind liess die sowjetische Führung Ende Februar 1944, ein Jahr nach dem Aderlass von Stalingrad, rund eine halbe Million Tschetschenen und Inguschen in Viehwaggons nach Kasachstan deportieren. Erst unter Chruschtschow konnten die Überlebenden in ihre alte Heimat zurückkehren. Aus heutiger Sicht und nach zwei weiteren Tschetschenien-Kriegen lässt sich diese unzimperliche Deportation an der von den Nazis bedrohten Südwestflanke Russlands nachvollziehen. Jedenfalls sind diese Deportationen kein moralisches Argument gegen den Sozialismus als politisches Ideal; die Machtzentrale Moskau operierte ja nicht als Gärtner in einer friedlichen Blumenwiese, sondern umzingelt von erbitterten und hochgerüsteten Feinden. Und das humanitäre Kriegsvölkerrecht wurde erst später kodifiziert.

Zu e. Als Marxist hatte Stalin Hitlers „Mein Kampf“ gelesen und wusste, dass dieser plante, die Sowjetunion zu überfallen, zu erobern und den „jüdischen Bolschewismus“ zu vernichten. Russland hatte also gar keine Wahl als aufzuholen, es musste die Schwerindustrie forciert entwickeln und ebenbürtiges Militärmaterial produzieren. Auch dieses Vorhaben konnte nicht zimperlich angegangen werden, sondern erforderte eiserne Disziplin, wie schon unter b. erwähnt. Wenige Tage vor dem Einmarsch der Nazi-Armee in Polen, am 23.8.39, schlossen Deutschland und die UdSSR den sog. Hitler-Stalin-Pakt oder Nichtangriffs-Pakt. Nach dem Einmarsch folgten geheime Zusätze über beidseitige Einfluss-Sphären (28.9.39).

Letzteres war selbstverständlich kalte Macht-Politik, also nichts Neues: Auch die Siegermächte des 1. Weltkriegs hatten sich auf Einfluss-Sphären geeinigt, insbesondere in Afrika und im Fernen Osten. Der Vorwurf im Kalten Krieg lautete jedoch, Stalin habe sich als sozialistischer Machthaber charakterlich disqualifiziert, indem er sich herabliess, mit dem Schuft Hitler auf Augenhöhe einen gewichtigen Vertrag zu schliessen, er sei demzufolge selber ein Schuft. Ich weiss nicht, ob meine These neu ist: Stalin tat das unter anderem deshalb, weil er 1939 Russlands Schwerindustrie und Waffenproduktion noch nicht als ebenbürtig einschätzte, also weil er Zeit gewinnen wollte. Dennoch konnte die Rote Armee den deutschen Angriff (1941 Barbarossa), trotz Warnung durch die Agentin Ilse Stöbe, nicht an der Westgrenze aufhalten, sondern musste im Grossen Vaterländischen Krieg eine Anzahl Gefallener im zweistelligen Mio-Bereich hinnehmen; hinzu kommen die zivilen Opfer. Vielleicht waren gerade die zwei gewonnenen Jahre ausschlaggebend, dass die Rote Armee schliesslich bei Stalingrad anfangs 1943 der 6. Armee Hitlers das Genick brach und im Kriegsverlauf die Wende herbeiführte, um die Wehrmacht schliesslich zu besiegen. Im Kalten Krieg wurde dieses Verdienst Stalins und der UdSSR heruntergespielt und die Amerikaner trotz unnötiger Städte-Bombardements als Befreier gefeiert, welche am 5. Juni 1944 in der Normandie gelandet waren. Natürlich war alles viel komplexer. Hier lege ich Wert auf die These, dass Westeuropa der Sowjetunion mehr Dank schuldete als den Amerikanern und überhaupt keinen Anlass hatte zu den Vorwürfen unter e.

Zu f. Der Krieg mit Finnland und die Einverleibung des Baltikums (1939/40) waren die Folge des deutschen Vorrückens und der genannten Absprache, letztlich eine strategische Sicherung der russischen Nordwest-Flanke. Das ist angesichts des erwarteten deutschen Angriffs viel wichtiger als die Nebenabsicht, diesen Staaten kriegerisch „die Segen des Sozialismus“ zu bringen. Der im Kalten Krieg oft erhobene Vorwurf, dadurch habe sich die Sowjetunion entgegen allen sozialistischen Friedensbeteuerungen als angriffslustiger Staat entpuppt, erweist sich angesichts der damaligen Grosswetterlage als lächerlich. Hinzu kommt die Überlegung, dass die Sowjetunion als sozialistisch orientierter Staat ja nicht moralisch besser sein musste als der Westen, um eine Alternative zu bieten, sondern nur nicht viel schlechter. Sie war aber, was die Angriffslust betraf, viel besser, friedliebender. Zum Beweis sei auf die zahllosen militärischen Aggressionen der USA in Lateinamerika und später in fast der ganzen Welt während des 20. Jahrhunderts verwiesen sowie auf dasselbe Verhalten der europäischen Militär-Mächte in Afrika und Asien in dieser Epoche. Und wieviele Eroberungskriege gingen von der UdSSR aus? Null bis höchstens fünf, je nach Zählart (vgl. Kap. 40). Die baltischen Staaten hatten vom 18. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg nämlich zum zaristischen Russland gehört. Man kann deshalb nicht von einer Eroberung reden, höchstens von einer Rück-Eroberung.

Zu g. Während des Kalten Krieges lautete der Vorwurf der Rechten und der Halblinken an die Sowjetunion, sie habe ihren Einflussbereich nach 1945 gewaltsam oder jedenfalls undemokratisch nach Westen ausgedehnt und die osteuropäischen Nationen zu Satellitenstaaten degradiert. Also müsse man gegen sie in Stellung gehen.
Diesen Standpunkt kann jede und jeder einnehmen, der rechtsstehender Verbündeter des Westens ist. Aber jemand, der/die an den Sozialismus als friedliebende, egalitäre Menschheits-Vision glaubt, darf sich von diesem Vorwurf nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Stalin löste am 15.5.43 die Kommunistische Internationale auf, um den Westalliierten die Sorge vor einer kommunistischen Weltrevolution zu nehmen; Anliegen der UdSSR sei allein, den „
grossen vaterländischen Krieg“ zu gewinnen (Chronik des 20. Jh. S.603). Und 1945 hatte Russland nur ein dominierendes Interesse: von Deutschland aus nicht noch ein viertes Mal angegriffen zu werden. Also war es legitim, einen Satellitengürtel befreundeter Nationen um sich zu scharen, der von einem allenfalls erstarkenden und sich neu bewaffnenden Deutschland nicht erneut als Verbündeter oder Aufmarschgebiet benutzt werden konnte. Keine andere Polit- und Staatsform bot dafür mehr Gewähr als die sozialistische, also der friedlichen Völkerverständigung verpflichtete, ohne privatwirtschaftlich organisierte, an Kriegen interessierte Rüstungsindustrie. Folgerichtig begünstigte die UdSSR die Machtergreifung der Kommunisten in Osteuropa (am 26.5.46 gewannen diese in der CSR freie Wahlen, Chronik S. 683), namentlich in Ostdeutschland (am 1./15.9.46 gewann die SED, S. 686). Sie tat dasselbe, was die Amerikaner in ihrem Einflussbereich auch taten. Es gibt sogar enorme moralische Unterschiede: Die USA unternahmen zahllose Militärinterventionen in Staaten, auch Zwergstaaten, um ihnen genehme Regierungen einzusetzen oder durchzutragen. Diese Staaten hatten die USA nicht angegriffen. Um so weniger stand es dem von den USA geführten Westen an, mit dem moralischen Finger auf die zuvor angegriffene UdSSR zu zeigen und für das christliche Abendland ein Bedrohungsszenario aufzubauen. Russland hatte die USA weniger als nachgeahmt.

Hinzu kommt, dass die Sowjetunion allen Grund hatte, der Demilitarisierung und Entnazifizierung in Deutschland zu misstrauen. Deutschland wurde re-militarisiert, und zwar von West nach Ost (vgl. Kap. 10f): Stalin hatte vergeblich vorgeschlagen, ganz Deutschland unter der Vier-Mächte-Verwaltung, aber ungeteilt als entmilitarisierte Zone dem Frieden und der Neutralität zu verpflichten. Aber spätestens nach der Londoner Konferenz der Westmächte (6.3.48) war der UdSSR klar, dass die Westalliierten keine gemeinsame Verwaltung Deutschlands mehr wollten, sondern einen separaten westdeutschen Staat, was sie dann auch verwirklichten. Nach der Zonen-Aufteilung (Jalta 4.-11.2.45) konstituierte sich die sowjetische Besatzungszone am 7.10.49 als DDR erst, nachdem die westlichen Besatzungszonen sich dem politischen Westen angeschlossen hatten und am 23.5.49 ein souveräner Staat wurden, die Bundesrepublik. Konrad Adenauer (1876-1967, Bundeskanzler l949-63) und Franz Josef Strauss (1915-88, Bundesminister 1953-69) wollten Westdeutschland aufrüsten und in die NATO führen; sie waren nicht bereit, die deutsche Teilung und Entmilitarisierung hinzunehmen und die – verächtlich als Ostzone bezeichnete – DDR anzuerkennen. Der Warschauer Pakt war am 14.5.55 als Reaktion auf die NATO (4.4.49) gegründet worden, nicht als einseitige Aufrüstung des Ostens, und Ostdeutschland trat ihm am 28.1.56 bei als Reaktion auf den NATO-Beitritt der Bundesrepublik (5.5.55). Der Katholik Adenauer vertrat den Standpunkt, der Schlüssel zur deutschen Wiedervereinigung liege in Moskau, nicht in Ost-Berlin, weil es unter seiner Würde war, mit dem Atheisten und Kommunisten Ulbricht zu verhandeln. Er weigerte sich, die Teilung als logische Folge des deutschen Militarismus unter Hitler hinzunehmen, sondern trachtete nach Revanche dafür, dass sich der geographische Einflussbereich der UdSSR konsolidiert und seine Westgrenze befestigt hatte. Winston Churchill bezeichnete diese schon als Eisernen Vorhang, lange bevor die DDR am 26.5.52 die Sperrzone mit Schiessbefehl angelegt hatte (vgl. dazu Kap. 10 und 17). – Natürlich war das alles viel komplizierter: L.L.Matthias schildert (in seinem 3. Kap.) als Zeitzeuge und sehr detailliert, wie Churchill und Truman den roten Zaren austricksten, nicht umgekehrt. Roosevelt hatte viel mehr Verständnis für Stalins Wunsch gehabt, dass die Nachkriegs-Ordnung nach den riesigen Verlusten an Menschen, Gebäuden und Material und nach den unsäglichen Verwüstungen nun endlich die Sicherheit Sowjetrusslands eisern garantiere. Die westliche Politik schon vor der Gründung der NATO war das Gegenteil – was die östliche Härte z.B. in der Berlin-Blockade (Juni 1948 bis Mai 1949) nachvollziehbar macht (S.147, vgl. unten zu h).

Auf was es mir hier ankommt, ist die Feststellung, dass ein an Sozialismus Interessierter es der UdSSR nicht verübeln konnte und kann, ihre Machtdomäne weit nach Zentraleuropa hinein ausgedehnt zu haben. Er kann sich darum nicht aus solchen Gründen vom Sozialismus abwenden, es ist moralisch inkonsequent – zumal man in der NZZ vom 11.10.13 die überraschende Passage findet: Gleichzeitig war man aber auch peinlich darauf bedacht, den Anschein zu erwecken, in den osteuropäischen Staaten seien die kommunistischen Regierungen mit demokratischer Legitimation an die Macht gekommen. Darin trafen sich die Kreml-Strategen durchaus mit den Erwartungen in diesen Ländern selbst. In den meisten osteuropäischen Staaten (mit der Ausnahme der Tschechoslowakei) waren vor dem Zweiten Weltkrieg autoritäre Regimes an der Macht gewesen, die in den Augen vieler Bürger als Zerfallsprodukte der liberalen Demokratie galten. Deshalb konnten die Kommunisten in den Nachfolgestaaten zunächst auf hohe Zustimmungsraten hoffen“ … Also, warum dann diese erbitterte Empörung während des Kalten Krieges ??

Zu h. Die Empörung entzündete sich natürlich auch an der Blockade der Berliner Westsektoren am 24. Juni 1948 und entlud sich in Begeisterung für die westalliierte Luftbrücke während 13 Monaten. Diesem Grossereignis war die genannte Londoner Konferenz vorausgegangen, und am 20.3.48 hatte der sowjetische Marschall Sokolowskij den Alliierten Kontrollrat unter Protest verlassen. Die Blockade wurde provoziert durch die Währungsreform (in Westdeutschland und dann erst im Osten) sowie durch den Entscheid der Westmächte, die westliche Währung auch in den Berliner Westsektoren einzuführen (24.6.48). Daraufhin unterbrach die ostdeutsche Behörde gleichentags den gesamten Interzonenverkehr samt Warenlieferungen, was die USA zur vielbejubelten Luftbrücke nach West-Berlin veranlasste. Der Tenor war: Die Amerikaner sind die verlässlichen Partner gegen den Sowjet-Terror, gegen das Abwürgen der Freiheit in West-Berlin.

Nüchtern betrachtet stimmt die Einschätzung Sokolowskijs, erst die westdeutsche Währungsreform habe die Spaltung Deutschlands besiegelt. Was genau die Sowjets befürchteten und was sie zu dieser drastischen Blockade bewog, kann ich nicht beurteilen. Fest steht aber, dass die Politik der Nadelstiche und einseitigen Provokationen vom Westen ausging. Die Stimmung hierzulande wurde aber in den drei Jahren seit Kriegsende so gedreht, dass die Provokationen bejubelt und die Reaktionen der Sowjetunion geächtet wurden. Dabei handelte es sich um gewöhnliche Machtpolitik, um Besitzstand-Ausdehnung des Westens versus Besitzstand-Wahrung des Ostens. Im globalen Kontext, wonach die privatwirtschaftlich organisierte Rüstungsindustrie der Westmächte aus Gründen der Profitmaximierung auf Krisen und Kriege angewiesen ist, wundert mich diese Stimmungsmache nicht. Mich wundert aber, dass die hiesigen Sozialdemokraten in diese einstimmten. Heute jedoch, wenn die politisch interessierte Jugend die Ereignisse und Argumente auf die Waagschale legt, hat sie keinen Grund, die Blockade Berlins von 1948/49 als Argument gegen den Sozialismus zu sehen.

f) In einer Gesamtwürdigung der Epoche unter Stalin gehe ich von einigen Axiomen aus und komme zu einigen Schlüssen:

  1. Politiker wird man aus Geltungs- und Tatendrang.
  2. Sozialist wird, wer die Armen liebt oder die Reichen hasst, oder beides.
  3. Kapitalist wird, wer die Reichen liebt und die Armen benutzt.
  4. Die meisten Menschen passen nicht in diese Unterscheidung, dann werden sie Mitläufer. Oder sie wollen einfach leben, ohne sich um Politik zu kümmern. Jedoch: Wer keine Politik macht, mit dem wird Politik gemacht.
  5. Die meisten Menschen sind aber immerhin Moralisten und haben eine Meinung.
  6. Wer eine Meinung hat, ist schon verloren, ist dem gewaltigen Spiel von Propaganda ausgeliefert, ohne es zu durchschauen.
  7. Um Propaganda zu durchschauen, muss man sehr viel wissen, 200 Jahre Geschichte und viel Marxismus, und in allen Schuhen stehen können.
  8. Um Propaganda zu durchschauen, ist ein Grundstandpunkt nötig, also mehr als nur (m)eine Meinung.
  9. Je nach Epoche haben die Gestalter und Beobachter des Lebens-Spiels unterschiedliche Grundstandpunkte eingenommen: Religion, Kunst, Helfen, Lieben, Pflicht, Verstehen, Macht, Geld, Nirwana usw.
  10. Ich habe den Grundstandpunkt des Verstehens eingenommen: Ich will verstehen und verstanden werden.
  11. Im Bereich der Politik habe ich die Analyse- und Denk-Methode des Marxismus eingenommen, welche das Oben und Unten als Zusammenhang erklärt; sie überzeugt mich. Ich habe ein Fakten-gestütztes, egalitäres, humanistisch-säkulares Menschenbild und nenne mich deshalb Neo-Sozialist, liberaler Neo-Marxist.
  12. Wer unter euch ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein (Johannes 8,1-11). Obwohl Atheist, schliesse ich mich diesem Jesus-Wort an; oder gerade deswegen: Urteile nicht – liebe! Auch deine Feinde. Und wenn das nicht gelingt: Verurteile dich nicht! Mir gelingt es z.B. nicht, die Antikommunisten zu lieben, vgl. unten 21.
  13. Du darfst bei deinem Urteil Massenmörder bleiben. Aber bitte ergänze es.
  14. Die USA haben vor, während und nach der Stalin-Ära unzählige Militär-Operationen durchgeführt, allesamt im Ausland. Die Wikipedia-Liste umfasst mehr als zehn Seiten. Auf wen wirfst du nun deine Steine? Und hast du an die Austilgung der Indianer gedacht?
  15. Die europäischen Kolonialmächte haben in Afrika, Südasien und China vor, während und nach der Stalin-Ära schlimmste Verbrechen begangen, auch Völkermord und Sklaverei. Sogar Deutschland beging Völkermord und wollte seine 1918 verlorene Kolonie zurück, just während der Stalin-Ära, um damit fortzufahren. Auf wen wirfst du nun deine Steine?
  16. Die Kalten Krieger haben ab 1945 und bis heute ihre Steine auf Stalin geworfen, auf die Sozialistische Schreckensherrschaft, wie sie sagen. Sie waren und sind blind dafür, dass die Sowjetunion selber es schaffte, sich vom Personenkult und Stalinismus zu verabschieden: Am XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 rechnete Chruschtschow mit den (übertrieben geschilderten) Untaten Stalins ab. Die KPdSU distanzierte sich von diesen Untaten, lange bevor sich die Westeuropäer, wenn überhaupt, von ihren Untaten in ihren Kolonien distanzierten: Grossbritannien, Belgien, Frankreich, Portugal, Italien. Weisst du das? haben sie es jemals getan? Meines Wissens haben sie die Befreiungsbewegungen noch bekriegt lange nach 1956. Niemand im Westen hat auf sie je Steine geworfen.
  17. Als Papageien der amerikanischen Propaganda waren und sind diese ehemaligen Kolonialmächte blind für die Schreckensherrschaft in ihrer eigenen Sphäre. Auf sie werfe ich meine Steine.
  18. Denn die Schreckensherrschaft Hitlers und der Nazi, überhaupt der Faschismus, war ebenso ein Produkt des Kapitalismus (vgl. Kap. 8) wie die heutige globalisierte Zeit, in der jeder 122. Mensch auf der Flucht ist. Ohne die damalige kriegerische Herrschaft des Kapitals hätte Stalin keine Schauprozesse und Deportationen veranlasst.
  19. Der Kapitalismus, also die privatwirtschaftlich organisierte Güterproduktion mit dem Ziel der Gewinnmaximierung, insbesondere in der Rüstungs- und Kriegs-Industrie, ist seit 200 Jahren das Grundübel der christlichen Zivilisation. Ohne seine Überwindung werden die Probleme der Menschheit weiter zunehmen, und zwar exponentiell und irreversibel.
  20. Stalin wehrte den Angriff der Faschisten ab, mit eiserner Disziplin, und er war unterwegs, den Kapitalismus zu überwinden und diesem ein befriedetes Terrain abzuringen. Auf ihn werfe ich – höchstens einen Kieselstein. Er verteidigte Russland und dann den Anti-Kapitalismus.
  21. Die Kalten Krieger aber, die Frontsoldaten des Kapitalismus, waren schliesslich um einiges schlauer. Mit Täuschungen trickste Ronald Reagan (US-Präsident 1981-88) den Sowjetblock aus. Auf ihn werfe ich einen grossen Stein.

g) Auf Leonhard Ragaz (1868-1945), einen Zeitgenossen Stalins, berufen sich die „Christen für den Sozialismus“. Der Katholik Adenauer sorgte dafür, dass in der CDU der Begriff Christlicher Sozialismus keinen Platz hatte, er setzte ihn mit Marxismus und Mangelwirtschaft gleich. Ragaz vertrat den Religiösen Sozialismus in der Schweiz als Gegensatz zur Bewegung der Kommunisten. Sein Bekenntnis war u.a. „Wenn der Kapitalismus sich mit der Gewalt verbindet, so entspricht dies seinem Wesen, aber wenn der Sozialismus es tut, so ist es Abfall von sich selbst; es ist Untreue, und Untreue ist Selbstauflösung. Sozialistischer Mörtel, der mit Gewalt angerührt wird, hält schlecht.” Seine Nachfolger distanzierten sich denn auch deutlich von der KPdSU und wurden, so erlebte ich es, von den Kalten Kriegern prompt vereinnahmt.

Nehmen wir einmal an, Ragaz wäre Russe gewesen und vom Zaren 1917 zum Ministerpräsidenten ernannt worden mit der Aufgabe, dieses Riesenreich zu regieren. Zweifellos hätte der Pazifist Ragaz wie Lenin für den Austritt aus dem 1. Weltkrieg gesorgt. Und dann, wenn er ein bisschen mehr soziale Gerechtigkeit verwirklichen wollte? Wie wäre er mit der Weissen Armee und den hereinstürmenden Invasionsheeren umgegangen? Gewaltlos? und mit der Bibel in der Hand? Wie hätte er seine Forderung nach genossenschaftlich verfassten und kooperierenden Betrieben und Unternehmungen umgesetzt? Wen hätte er als Verbündete gewinnen können, um die gewaltbereite Gegnerschaft seitens des Landadels und der Bourgeoisie zu überwinden? Angenommen, er hätte ebenfalls Hitlers Mein Kampf gelesen und dessen Absicht zur Kenntnis nehmen müssen, dem Germanentum im Osten neuen Lebensraum zu erkämpfen. Welches Gebet hätte ihn erleuchtet, aus dem Dilemma zwischen gewaltfreier Kapitulation und Landesverrat herauszufinden?

h) Ich will mit diesem Beispiel zeigen, dass es niemandem zustand und heute zusteht, sich voller Abscheu vom Weg, den Stalin wählte, abzuwenden. Stalin stand in einer riesigen geschichtlichen Verantwortung und musste wählen, Hitler hatte es ihm aufgezwungen, und er ging seinen Weg. Wir Schweizer, ja wir Europäer profitierten davon, dass er Hitler besiegte (vgl. Kap. 20: westliches Empörungs-Management). Wäre es mit weniger Erschiessungs- und Gulag-Opfern auch möglich gewesen, die erforderliche Disziplin durchzusetzen? oder mit Null? Niemand weiss das. Deshalb wende ich mich von den Besserwissern im Kalten Krieg voller Abscheu ab, besonders von den Antikommunisten, welche die ständig wachsende kriegerische Dauerkrise zu verantworten haben, in der wir seit nunmehr 30 Jahren stecken.

Kürzlich erwähnte ich gegenüber einem engagierten Christen die Zahl von 30 Mio. Kriegsopfern, die Russland als Folge des Hitler-Feldzugs zu beklagen hatte. Sofort! kam die Antwort, diese hohe Zahl sei auf die verfehlte Strategie Stalins zurückzuführen, das sei gesicherte Erkenntnis der Militärgeschichte. – Wie bitte? Diesem Verfechter des Mitgefühls und der Barmherzigkeit fällt angesichts der riesigen Tragik des 2. Weltkriegs reflexartig sofort ein, dass es wegen Stalins strategischen Fehlern 30 und nicht etwa 15 Mio. Kriegsopfer waren – Selber schuld! Wie kommt das? Ich kann es mir nur erklären als eingefleischten Anti-Stalin-Reflex, der diesem wichtigen und erfolgreichen Staatsmann sofort ein Haarbüschel in der Suppe ankreiden muss, sogar bei den Opferzahlen, dem Angegriffenen und nicht etwa dem Aggressor Hitler. Einem angemessenen, weisen Bild von Russlands Leiden ist das gewiss nicht förderlich, zumal wir von diesem Leiden profitierten. Strategische Fehlentscheide? Hinterher sind viele gescheiter. Man versetze sich in die Lage ex tunc, nicht ex nunc, dies ist nicht zulässig. Immerhin sagen die Militärhistoriker (ex nunc!) nicht, Stalin habe seine Divisionen absichtlich verheizt. Er verdient den Titel zweitgrösster Massenmörder der Geschichte nicht. Und selbst wenn dem so wäre: Die Vision des Sozialismus als Garant des friedlichen Miteinanders der Menschen verdient einen zweiten Anlauf, unabhängig von den Taten und Untaten Stalins.

i) Warum habe ich mich für eine gewisse Ehrenrettung Stalins ins Zeug gelegt? Weil ich auf einem Schiff mit Schlagseite stets an die andere Reling eile, um das Ertrinken zu verhindern. Wenn der real existierende Sozialismus des 20. Jahrhunderts keine Ehrenrettung erhält, nicht mal ein bisschen, dann hat seine Vision keine Chance.

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