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Was ist Propaganda, also völlig einseitige Darstellung, aber mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und Wahrheit? Woran erkennt man sie? Wie kam ich dahinter? Wie habe ich überlebt?

a) Erste Prägungen

Mein Grossvater hatte 1933 für Hitler gestimmt. Meine Mutter nahm das ihrem Schwiegervater zeitlebens übel. Mein Vater war Mitglied der freisinnigen Partei und strammer Anti-Kommunist.
Wie kam es, dass ich (geb. 1941) die Seite wechselte und heute ein Sozialist bin, ein liberaler Neo-Marxist?
Ich wuchs mit meiner älteren Schwester in einer bürgerlichen Familie in St.Gallen (Ostschweiz) auf. Unsere Mutter war Hausfrau, unser Vater Baumeister. Er hielt den Kommunismus für eine verbrecherische Bewegung, ähnlich schlimm wie der Nationalsozialismus, der eben erst besiegt worden war.
Meinen ersten Eindruck von Spuren des 2. Weltkriegs bekam ich bei einem Besuch in Friedrichshafen. Bein-amputierte Männer mit Lastwagen-Pneus am Unterleib schoben sich mit den Händen über den Bürgersteig und bettelten, und in zerbombten Häusern hingen die Decken herunter. Ich war damals etwa 5 oder 6 und lernte: Die kriegsverschonte Schweiz ist gut, Diktaturen wie Hitler-Deutschland sind schlecht, ja böse, und Gott strafte sie, indem er die Amerikaner zum Sieg führte.
1953 starb Stalin, der andere grosse Diktator und Massenmörder. Mein Vater vermittelte mir, dass das für „die Russen“ eine Chance sei, eine brave Demokratie zu werden, so wie Amerika, England, Frankreich und nun Deutschland. Aber die bösen Kommunisten, so belehrte er mich, behielten das eroberte Osteuropa hinter ihrem Eisernen Vorhang gefangen und nötigten diesem ihr schlechtes System auf. Nur in Berlin war ein Schlupfloch zum Fliehen.
Ich stand vor der Matur und wollte Pfarrer werden, als die teuflischen Ostdeutschen dort am 13.8.61 die Grenze schlossen und die Mauer bauten. Damit war klar, dass die Westdeutschen die Guten und die Ostdeutschen samt den Russen die Bösen waren: Konrad Adenauer und Walter Ulbricht.

b) Herr Wyss

Im Wintersemester 1961/62 begann ich in Zürich zu studieren – doch nicht Theologie, sondern Jurisprudenz. Die Nietzsche-Lektüre hatte tiefe Zweifel am christlichen Glauben gesät.
Ich kannte keinen Kommunisten, war aber überzeugt, dass jeder mit finsteren Absichten und einer Pistole im Sack herumlaufe. Aus meiner Jugend, zwischen streitenden Eltern, war ich immerhin gewohnt, gegensätzliche Standpunkte passiv auszuhalten und auf denjenigen Standpunkt neugierig zu sein, den ich nicht teilte.
Ich wohnte damals nahe beim Niederdorf. Eines Nachts kam ich auf dem Heimweg an einer Gruppe Menschen vorbei, die sich um einen Mann scharten und mit diesem heftig diskutierten. Er war mittleren Alters, von unauffälliger Gestalt und Kleidung und vertrat seine Ansichten mit freundlichem Gesicht. Ich hörte zu und stellte fest, dass sich das Gespräch um Politik drehte – nicht Lokal-, sondern Weltpolitik, und zwar um den West-Ost-Gegensatz. Dieser Mann vertrat die Position, dass nicht die Westmächte die Friedliebenden und damit die Guten seien, sondern die Kommunisten im Osten. Da stand nun einer, ein beredter Kommunist, und focht nicht mit Waffen, sondern mit Argumenten, mitten auf der Strasse, umringt von Andersdenkenden, einer gegen alle. Ich blutjunger Student, eben erst dem Glauben an Himmel und Hölle entronnen, hatte plötzlich einen Vertreter des Bösen vor mir, der seine Sicht der Dinge als gut und richtig darlegte. Fasziniert mischte ich mich ein, konfrontierte diesen Linken mit der blutigen Unterdrückung des Ungarn-Aufstands (1956) und dem brutalen Bau der Mauer in Berlin und staunte, dass er dazu ruhig und freundlich Erklärungen bot, die allem bisher Gehörten diametral widersprachen. Dumm war er nicht, dieser Mann, und von hinterhältigen, inhumanen Absichten spürte ich auch nichts. Es wurde Mitternacht, und die Diskussionsrunde war geschrumpft. Als wir nur noch zu zweit waren und meine Neugier, auch Lust am Widersprechen, immer stärker wurde, lud er mich ein, ihn anderntags zu besuchen, und wir spazierten zum Central, wo er, am Anfang der Weinberg-Strasse, seine Uhrmacher-Werkstatt hatte.
Von da an sass ich statt in Vorlesungen oft bei Herrn Wyss und lauschte seinen Ausführungen über Geschichte und Politik, während er Uhren flickte. So lernte ich eine völlig neue, völlig andere Sicht der Dinge kennen, welche den damals herrschenden Kalten Krieg ausmachten. Ich verglich seine Sicht mit allem, was ich bisher erlebt und gelernt hatte, und kam allmählich in immer grössere Zweifel, ob dieses Gelernte Bestand habe.

c) Der Spagat

Noch bevor mein bürgerliches Weltbild kippte, trat ich in eine farbentragende Verbindung ein. Deren Devise lautete: Gott-Freundschaft-Vaterland. Mit über 70 bin ich immer noch Mitglied. Meine Zugehörigkeit ist ein Spiegel meines lebensprägenden Spagats zwischen Links und Rechts.

Meine Verbindungsbrüder waren allesamt stramme Anti-Kommunisten, und einige waren Offiziere. Einer lancierte eine Plakat-Kampagne: ein Schweizer Käse, zernagt von roten Wühlmäusen, und darüber der Slogan: „Kein Osthandel!“ Es wurde erwartet, dass wir diese Plakate zum Aufhängen in die Läden verteilten. In meiner Ambivalenz widerstrebte mir das, aber mir fehlte der Mut, das meinen Brüdern anzuvertrauen. Ich warf die Plakate in den Abfall. Feige? Die politische Stimmung war damals (um 1962) so, dass ich den Ausschluss befürchtete. Meine frühen Kindheits-Prägungen legten mir nahe, mich zu ducken.
Ich begann, mich mit den Inhalten zu befassen, die ich in der Uhrmacher-Werkstatt aufsaugte, und wollte sie überprüfen. Wichtigster Inhalt war der theoretische und praktische Unterschied zwischen dem Kapitalismus = ökonomisch-politisches Modell des Westens, und dem Sozialismus = Modell des Ostens. Anhand einer Metapher begriff ich den Unterschied, allerdings aus sozialistischer Perspektive:
In der Wüste entdeckt einer eine Quelle. Ist er Kapitalist, so legt er einen Zaun um sie und verkauft das Wasser, auch an Dürstende und Arme. So wird er reich und kauft sich weitere Quellen usw. Ist er Sozialist, so gibt er das Wasser an alle Besucher ab, die es benötigen, und lebt von deren Gaben, „weil es allen gehört“. Andere Quellen werden von anderen Sozialisten verwaltet, ohne dass sich Macht anhäuft.
Anhand dieser Metapher lernte ich rein theoretisch zu unterscheiden zwischen dem Privateigentum an Produktionsmitteln und dem „Volkseigentum“.
Viel später las ich im <Discours sur l’inégalité parmi les hommes> des Philosophen J.-J. Rousseau:

„Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen liess zu sagen: ‚Dies  ist mein’, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen hätte.“

(zitiert in BdW 11/2013 S.81; Hakan Baykal, Die Erfindung der Klassengesellschaft: Zehntausende von Jahren lebten unsere Vorfahren in egalitären Gesellschaften, ohne König, Häuptling oder Chef. Doch dann kippte die Balance).

Um die ökonomischen Auswirkungen dieses Kippens zu dokumentieren, legte ich mit etwa 21 eine Kartei an mit Firmen-Abschlüssen, und ich begann, den Reingewinn, der an die Aktionäre verteilt wurde (Privateigentümer), auf die Beschäftigten umzulegen. So rechnete ich aus, was die sog. Ausbeutung der Werktätigen in Dollar, DM oder Franken ausmachte. Den entsprechenden, inzwischen vergilbten Zusammenzug besitze ich immer noch. Daraus entnehme ich, dass im Jahre 1962 der US-Konzern Standard Oil of New Jersey einen Reingewinn von 841 Mio. $ erwirtschaftete, welcher jedem der 150’000 Beschäftigten, die diesen Mehrwert schufen, eine Ausschüttung von 5’600 $ (oder 470 $ pro Monat) gebracht hätte – wenn er an sie statt an die Eigentümer verteilt worden wäre. Beim Chemie-Konzern Du Pont de Nemours (Reingewinn 472 Mio. $, 93’000 Beschäftigte) hätte die jährliche Ausschüttung 5’075 $ (oder 423 $ pro Monat) betragen, bei General Motors 2’653 $, bei Ford 1’590 $, bei BASF 2’700 DM, bei Bayer 2’450 DM, bei Thyssen 1’500 DM, bei VW 1’100 DM, bei Sandoz 2’130 CHF und bei Nestlé 970 CHF. Die Liste umfasst 39 Firmen. Demgegenüber, so hörte ich, schüttet der VEB (Volkseigener Betrieb) in der DDR (früher: Ostzone, deren Bewohner waren die Zonesen, heute: Ossis) keinen Mehrwert an private Eigner aus, sondern investiert ihn u.a. in Neuerungen des Betriebs, welcher allen Beschäftigten gehört, theoretisch dem ganzen Volk. – Heute beträgt der Profit pro Arbeiter und Jahr in der Pharmaindustrie CHF 364’000,  im Maschinenbau CHF 26’000 und im Detailhandel CHF 8’000 (Gewerkschaft Unia in 20Min. 26.10.17 S.15).
Meinem deduktiven Denken entsprach die Modellhaftigkeit dieses Unterschieds. Und dieser wurde untermauert durch die Lektüre eines Buchs des Amerikaners Paul M. Sweezy: Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Köln 1959. Daraus lernte ich viel über den ökonomisch-politischen Liberalismus (Die freie Entfaltung des Einzelnen, zumal des Tüchtigen, ermöglicht den Wohlstand aller, der Wettbewerb der Tüchtigen sorgt automatisch dafür) und über die Kritik von Karl Marx daran (Das Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie die Akkumulation von Wert und Mehrwert führen automatisch in wirtschaftliche Krisen und diese wiederum in Imperialismus, Faschismus und Krieg).
Herr Wyss erzählte mir zum Wettbewerb der Tüchtigen eine weitere Metapher, eine offenbar wahre Anekdote: Ein westlicher Manager kommt in einer sowjetischen Stadt an und wird von einem Pferdekutscher zum Hotel gebracht. Dort fragt er seinen sozialistischen Verhandlungspartner, warum das Hotel den langsamen Kutscher nicht schon längst durch einen Autofahrer ersetzt habe. Der Funktionär antwortet: „Aber dann würde ja dieser liebenswerte Mann seinen Erwerb und seine Würde verlieren …“
Mit zahlreichen Beispielen aus der neueren Geschichte untermauerte Herr Wyss diese Unterscheidung und widerlegte zugleich die westlichen Denkschablonen, auch diejenigen über den Ostblock. Er prophezeite mir: „Sie werden den weltweiten Übergang zum Sozialismus noch erleben. Es ist die Gesetzmässigkeit der Geschichte.“ – Seit 1989 und bis heute sehe ich, dass er sich getäuscht hat: Gewonnen hat das System mit dem Stacheldraht um die Quelle …
Meine Mutter stammte aus einer Arbeiter-Familie, und ihr frommes Herz schlug eher für die Armen und Unterdrückten, bevor sie sich dem bürgerlichen Denken meines Vaters anglich. Als ich noch fromm war wie sie, begeisterten wir uns beide für den Urwald-Doktor Albert Schweitzer, der sich für die Randständigen Afrikas einsetzte. Als ich von den Idealen der Sozialisten und Kommunisten hörte, von der sozialen Natur des Menschen und dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe, knüpfte mein Gemüt an jene Frömmigkeit an und kippte allmählich „nach links, wo das Herz schlägt“. Die Denkweise meines politischen Mentors, gespickt mit unbürgerlichen Argumenten, überzeugte mich.
Da stand ich nun, im 2. Semester eines System-stützenden Studiums, vor der Rekrutenschule, im Clinch zwischen dem Leben im real existierenden Kapitalismus und dem Denken in marxistischen Kategorien, und ich litt.
Wegen einer Unfall-bedingten Behinderung erreichte ich die Umteilung von der Artillerie in den waffenlosen Hilfsdienst und erntete dafür von meinen Verbindungsbrüdern Skepsis und Geringschätzung. Das tat weh, zumal ich den wahren Hintergrund der Umteilung verheimlichen musste: dass ich nämlich dieses System nicht mit Waffen verteidigen wollte.

d)         Den Spagat schliessen?

Im Parallel-Denken von Bürgerlichkeit und Marxismus wurde ich immer sattelfester. Ein Lichtblick war mein künftiger Schwiegervater, ein alter Gewerkschafter, dem mein Denken und Forschen gefiel. Die Besuche bei Herrn Wyss wurden seltener, ich war in Sachen Sozialismus mehr und mehr zum Selbstläufer geworden. Aus meinem analytischen Denken heraus hatte ich den Anspruch, mein jeweiliges Gegenüber von meinen Idealen und Ideen mittels einleuchtender Argumente zu überzeugen. Um so erstaunter war ich, dass das nicht gelang, sondern zurückschlug, gegen mich. Ich spürte den Liebesentzug und schwieg, namentlich in meiner Herkunftsfamilie. Immerhin traute ich mich als Präsident der Verbindung, jüngeren Mitgliedern von meiner Firmen-Kartei zu erzählen, und wollte sie von der Richtigkeit der Marx’schen Ausbeutungs-Theorie überzeugen. Die Folge war, dass meine Brüder allen Ernstes planten, mir die Kartei zu entwenden. Als ich davon erfuhr, zog ich meine vorwitzigen Fühler ein, relativierte mein Vorhaben und schwieg. Feige? Ja, siehe oben.
Ein anderer Ausweg für mein Leben im Spagat wäre die Auswanderung gewesen: DDR oder UdSSR? Herr Wyss brachte mich mit einem anderen Kommunisten zusammen, mit Dr. Konrad Farner, der 1956 (Ungarn-Aufstand) fast gelyncht worden wäre. Dieser riet mir, den Kapitalismus eingehender zu studieren und hier etwas für eine humanere Welt zu tun. Es sei nützlicher, sich hier aufzulehnen z.B. gegen die blutige Aggression der USA in Vietnam, als irgendwo im Osten zu leben, ohne die Sprache und Mentalität jener Leute zu kennen. Das überzeugte mich halbwegs. Immerhin wollte ich mir selber ein Bild machen von den Lebensbedingungen im Ostblock. Ich buchte 1964 eine Reise mit einer französischen Gesellschaft, welche über Paris-LeHavre-Kopenhagen nach Leningrad und dann zum 1. Mai nach Moskau fuhr. Ich tat das heimlich und absichtlich vom Westen her in den Osten, weil ich wusste, dass der Inland-Geheimdienst ein solches Reiseziel bei späterer Karriere gegen mich ausspielen würde. Ich sah während des Umzugs die sowjetische Prominenz auf dem Lenin-Mausoleum (u.a. Chruschtschow, Breschnjew), ebenso den algerischen Präsidenten Ben Bella. Während des Aufenthalts in Moskau konnte ich im Kulturministerium meinen Auswanderungswunsch vortragen und erhielt eine klare Absage. „Jetzt weiss ich wenigstens Bescheid“, notierte ich ins Tagebuch. Ich notierte dort auch meine Erhebungen zum Lebensstandard sowie zur politischen Organisation und wusste nach dieser Reise, dass ich daheim über die sowjetischen Verhältnisse, wie ich sie durch meinen schmalen Ausguck wahrgenommen hatte, besser schwieg als plauderte: man hätte mir sowieso nicht geglaubt und meinen Ausflug ins Reich des Bösen mit Liebesentzug bestraft.
Letzteres geschah ein Jahr später trotzdem: Unser Geheimdienst hatte die Post des (observierten) Reisebüros geöffnet (die Fichen-Affäre lässt grüssen) und informierte einen meiner Brüder, einen Major im Generalstab, welcher dann meine Wahl in ein Amt der Studentenschaft verhinderte. Für einen Krypto-Kommunisten habe es dort keinen Platz. Da begriff ich endgültig: Gegen die bürgerliche Ideologie gibt es keine Argumente, sie ist wie eine uneinnehmbare Festung, wie Das Schloss von Kafka. Und ich begriff, dass ich mich in meiner Lebenswelt in Zürich tarnen musste, um familiär und gesellschaftlich zu überleben. – Auch diese 50 Essays hier werden von Bürgerlichen, wenn überhaupt, nicht wissenschaftlich gründlich aufgegriffen und analysiert werden, sondern entweder gehässig verspottet oder ignoriert. Diese Erfahrung hatte ich schon mit meinem wissenschaftlich gründlichen Buch über den Nahost-Konflikt gemacht (israel-in-palaestina.ch), selbst mit intellektuellen Juden: eine uneinnehmbare Festung. Deshalb wende ich mich hier vor allem an die politisch interessierte Jugend. Sie ist, so hoffe ich, noch nicht in machterhaltenden Denk-Schablonen verkalkt.
Im Szenario des Kalten Kriegs, welcher auch die Sozialdemokratie beseelte, gab es für mich nur einen schmalen Grat des Überlebens: den Landesring der Unabhängigen, die Partei des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler, welcher der Profitgier des Kapitals im Marx’schen Sinn die soziale Verantwortung zugesellte. In der Ideologie des Sozialen Kapitals konnte ich die Brücke finden, die mein freisinniger Vater gerade noch tolerierte, die Verbindung ebenfalls, und die doch genügend Freiraum bot, um einige linke Postulate einzubringen. Nachdem ich 1967, im Jahr meines Studien-Abschlusses (und meiner Heirat), in den LdU eingetreten war, erlebte diese Partei einen Aufschwung, und 1970 wurde ich ins Bezirksgericht und in den Gemeinderat gewählt – ein Linker im Schafspelz eines Bürgerlichen. Feige? Ja, siehe oben.
Immerhin: der Spagat tat nicht mehr so weh.

e) Meine Brille schärft den Blick für Propaganda – hüben und drüben

Im Kalten Krieg (1946 bis 1989) hatte ich ein wertvolles Unterscheidungs-Werkzeug. Ich wusste als einer der Wenigen in meinem Umfeld, dass die vorherrschende politische Meinung, also die bürgerliche, aber auch die sozialdemokratische, die Meinung einer der kriegführenden Parteien war, also, zu Ende gedacht, Kriegs-Propaganda, getarnt als seriöse Berichterstattung und als selbstverständliche Wahrheit, die von allen Unbedarften nachgeplappert wird, wie von PAPAGEIEN. Auch heute noch finde ich das lächerlich, zumal es sich im „Krieg gegen den Terror“ fortsetzt: Ein Propagandist wirft dem anderen Propagandisten Propaganda vor … Ich war und bin daher grundsätzlich skeptisch gegenüber jedem Bericht über umkämpfte Themen (jetzt z.B. Syrien, Mali, Ukraine, IS, Charlie Hebdo) und suche sofort nach Indizien, die ihn relativieren oder gar widerlegen. Solche finden sich zum Beispiel, wenn eine Partei die Position des Gegners zitiert oder diese verschweigt. In der noblen NZZ gibt es zuhauf solche Indizien, nämlich überall dort, wo ein Sach-Bericht mit vereinnahmenden Deutungen durchsetzt ist (vgl. Kap. 2). Seit dem Ende des Kalten Krieges ist dieser Stil etwas seltener geworden, ausser z.B. bei Themen wie Schwarzgeld, Steuerbetrug, Armee, Finanzplatz oder Kuba, Venezuela, Syrien, Ukraine und Nord-Korea.
Beim Lesen von Berichten bewährt sich meines Erachtens das Denkmodell, dass jeder Schreiberling ein Auftrag-Nehmer ist und man sich fragen sollte, wer der Auftrag-Geber ist. Und man sollte stets einbeziehen, dass der Berichtende das zu Berichtende mit seiner Brille sieht, nicht mit derjenigen des oder der Betroffenen. Und alle Berichte dieser Welt durchlaufen die Sichtweise und den redaktionellen Filter der weissen Oberschicht dieser Welt. Die Auftrag-Geber und -Nehmer verteidigen die Privilegien und Interessen dieser Oberschicht. Gut getarnt.

Solche Überlegungen leiten über zum 2. Kapitel: Der Strom kommt aus dem Kraftwerk, nicht aus der Steckdose … Die Nachrichten-Agenturen und unsere treuherzigen Redaktoren.

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