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5. Bitte differenzieren! – ein lächerlicher Einwand. Aussagen über die Regel werden ja durch die Ausnahme nicht widerlegt. Im übrigen: Was haben die Differenzierer dem Weltfrieden gebracht? Zerredet haben sie ihn und damit dem Weltkrieg zugedient, dem Krieg gegen die Welt.

a) In diesen Essays wimmelt es von pauschalen, plakativen Aussagen. Die Versuchung liegt daher nahe, sie pauschal zurückzuweisen, wenn sie konträr zu deinen bisherigen politischen Grund-Überzeugungen stehen und dich ärgern.

Andererseits: Intelligentes Menschsein besteht auch darin, Ausschau zu halten nach Denk-Inhalten, die dich widerlegen, statt dich wohlig in Bestätigungen zu baden. Die Menschheit machte stets dann Fortschritte und erklomm neue, weiterführende Ebenen, wenn sie bisherige Grund-Überzeugungen hinterfragte und neue Erklärungen und Ideen prüfte. Sonst wäre die Erde immer noch eine flache Scheibe, würde die Sonne um die Erde kreisen und gäbe es keine Quantenphysik.

b) Weil „Wahrheit“ sowieso subjektiv ist, also eine Projektion auf deine innere Leinwand (dein Bewusst-Sein), ist es auch legitim, den Film zu wechseln. Keine Angst: Die Leinwand wird nicht nass, wenn die Titanic untergeht, und sie brennt nicht, wenn am 11.9.01 die WTC-Türme in New York durch den CIA zum Einsturz gebracht wurden und nicht durch Osama bin-Laden (vgl. Kap. 35). Die meisten dieser Essays wollen Denkverbote aufbrechen und damit den Weg zu neuen Ebenen freimachen. Das Ziel, eine säkulare und humane Welt zu denken, rechtfertigt das Mittel, durch pauschale, plakative Aussagen neue (oder ab und zu alte) Denk-Inhalte zu portieren.

Nestlé tötet Babys“ war keine differenzierte Aussage, nicht einmal eine über die Regel statt die Ausnahme. Aber sie schreckte auf und regte zum Denken darüber an, wie die Propagierung von Pulvermilch die Lust am natürlichen Stillen untergräbt. „No Penis, no Money“ der Femen-Frau am WEF in Davos (20Min. 23.1.15 S.3) war eine unzulässige Verallgemeinerung des Lohngefälles zwischen Mann und Frau – aber wirksam! „Berlin 1961: Die Mauer war nötig“ (Kap. 17) ist undifferenziert, aber der Aufschrei eines Empörten: Befasst euch endlich mal mit der Vorgeschichte und dem Anteil des Westens, der nicht Null war, und seht euch das damalige Problem auch aus der Sicht der DDR und des realsozialistischen Blocks an!

c) Beim Differenzieren ist zu differenzieren zwischen der „Wahrheit“ und der „Sichtweise auf die Wahrheit“. Der Einwand, das oder jenes sei zu wenig differenziert und daher abzulehnen, ist sehr wohl angebracht beim Kritisieren von gleichsam wissenschaftlichen Beschreibungen der Wirklichkeit, die du als Wahrheit auf deine innere Leinwand projizierst. Er ist aber unangebracht, wenn die Art und Weise plakativ kritisiert wird, in der du auf deine Projektion schaust und sie bewertest. Die Mauer in Berlin verleitete viele Menschen zum Werturteil: Die DDR war ein Unrechtsstaat. Ihnen gilt die plakative Gegen-Aussage: „Die Mauer war nötig.“ Damit wird die Bewertung, die Sichtweise aufschreckend kritisiert, nicht aber die Beschreibung der Wirklichkeit, dass da von der Regierung in Ost-Berlin eine Mauer erbaut wurde, welche die wichtigste Stadt Deutschlands teilte – unbestritten ein höchst problematisches Mittel der Block-Politik. Der Einwand der Undifferenziertheit ist daher unangebracht, zumal wenn er gekoppelt ist mit Ablehnung und Ohren-Verschliessen. Denn die Differenzierung kommt ja erst noch (lies das Kap. 17 ganz).

d) Mit anderen Worten: Ein Aufschrei (gegen eine bestimmte Sichtweise und Bewertung) kann niemals differenziert sein – das nähme ihm die Kraft. Der Einwand der Undifferenziertheit verfolgt daher (unbewusst) meist gerade diese Absicht: einem Aufschrei die Kraft zu nehmen, weil er an einem (unbewussten) Denkverbot rütteln möchte und die zuhörende Person sich nicht aufrütteln lassen will. Das ist zwar ihr gutes Recht. Man darf auch dumm bleiben. Aber hier geht es ja um Anderes: um die Suche nach dem politisch Anderen.

Lächerlich wird der Einwand dort, wo er mit der Ausnahme gegen eine Regel argumentiert, welche als Aufschrei daherkommt. Wenn ich als bekennender Atheist sage, Religiosität sei schädlich, sie verwirre die natürliche Vernunft und entzweie die Menschen, verführe sie zu Rechthaberei und Graben-Kriegen, dann ist der Einwand lächerlich, Religiosität tue doch auch viel Gutes. Gemeint war ja mit dem Schaden das unermessliche Leid in aller Welt, welches durch sich bekämpfende Gläubige angerichtet wird, mit stiller Akzeptanz seitens der Lauen. Denn an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, sagt die Bibel. Gemessen daran ist der Nutzen von Trost und Zugehörigkeit die Ausnahme, welche zudem auch ohne Religiosität erreicht werden kann: durch den säkularen Humanismus (vgl. die Kap. 45-50).

e) Nun haben sich ja in der neueren Geschichte, so ungefähr seit dem „Kommunistischen Manifest“ (1848), polarisierende Strömungen daran aufgerieben, dass sie in der Analyse der herrschenden (!) Verhältnisse uneins waren und auch darin, wie diese geändert werden könnten und sollten. Man denke nur zurück an die Zerwürfnisse in der Sozialistischen Internationale, an die Gründung der Sozialdemokratie als Gegenpol, an die Richtungskämpfe der Bolschewiken und Menschewiken, der Stalinisten und Trotzkisten, an die unterschiedlichsten Bewertungen der machterhaltenden Massnahmen der UdSSR durch die westlichen Linken, an die Aufsplitterung vor und nach dem Mauer-Fall und an die Pulverisierung der Linken im Neo-Liberalismus. All dies lässt sich umschreiben als übertriebenes Differenzieren, welches die beteiligten Protagonisten davon ablenkte, die herrschenden Verhältnisse wirklich zu ändern. Als Schreibtischtäter, der erst hinterher klug ist, wage ich zu behaupten, dass die Verhältnisse längst geändert, nein: gut wären, wenn weniger differenziert und statt dessen die Neuverteilung der politischen Macht in globalen Zweckbündnissen wirkungsvoll angepackt worden wäre (He, wir sind die Mehrheit!). Das hätte zum Beispiel dazu geführt, dass westliche Sozialdemokraten die UdSSR als entschieden kleineres Übel weiterhin unterstützt hätten, statt ihr nach 1945 in den Rücken zu fallen. Sie wurden zu Papageien der westlichen Propaganda, auf dem rechten Auge halbblind, und schwächten damit nicht nur den Ostblock, sondern sogar die Bewegung der Blockfreien. Hätten die Sozialdemokraten und die Christen für den Sozialismus, statt nach links zu geifern, sich undifferenziert mit allen linken, ultra-linken und halblinken Blöcken verbündet, dann wäre der Kapitalismus (als unchristliches, inhumanes und letztlich kriegerisches Polit-System) überwunden, und weltweit könnte ein säkulares und humanes System eingerichtet werden (Kap. 48).
Tja.

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