16. Berlin 1953, Ungarn 1956, Prag 1968: Revolten von links, instrumentalisiert von rechts
a) Damals war ich 12 und 15 und natürlich politisch nicht urteilsfähig, ich schwamm im Kielwasser meiner Eltern und der bürgerlichen Umgebung, in der ich aufwuchs. Ich empfand die gleiche Wut auf die bösen(!) Kommunisten wie sie, als ich von der blutigen Niederschlagung des Aufstands in Berlin (17.6.53) und in Budapest (23.10.56) hörte. Dasselbe geschah noch beim Bau der Berliner Mauer (13.8.61, vgl. Kap. 17) – 1968 war das dann anders (vgl. unten e).
Und auch nachdem ich durch die Bekanntschaft mit Herrn Wyss (vgl. Kap. 1) ab 1962 allmählich anders zu urteilen begann, waren diese drei Ereignisse politisch/moralisch schwierig einzuordnen. Auch als Sozialist konnte ich nicht überzeugend begründen, wieso sie kein Argument waren gegen linke Ideale. Warum Blut? Wenn ein Bürgerlicher erklärte, es sei noch nie vorgekommen, dass die Kommunisten in freien Wahlen und ohne Gewaltanwendung an die Macht gekommen seien, dann kam ich ins Stottern und erwähnte höchstens die Wahlen in Chile 1970, welche Salvador Allende an die Macht brachten, gestürzt 1973 durch den CIA. Erst seit der vertieften Auseinandersetzung mit westlicher Propaganda bin ich sattelfest und kann Lügen widerlegen und/oder unterdrückte Fakten ans Licht holen (vgl. Kap. 10 f), was ja letztlich zu diesen 50 Essays geführt hat. Heute würde ich erwähnen, dass die USA in der gleichen Zeit auf ihrem Kontinent viel blutiger interveniert und Revolten niedergeschlagen haben, auch die europäischen Kolonialmächte in ihren Besitztümern, und es diesen schlecht anstehe, mit dem Moralfinger auf diese östlichen Bluttaten zu zeigen. Wer im Glashaus sitzt, soll keine Steine werfen.
b) Ich möchte dieses Kapitel über die östliche Sicht der Revolten von 1953 und 1956 beginnen mit der Rekapitulation wichtiger Stränge der Vorgeschichte:
c) Am 11. Juni 1953 kündigte die DDR-Führung eine Kurskorrektur an, damit weniger Menschen einen Anlass hätten zu fliehen. Die neuen Massnahmen der Liberalisierung sollten die Annäherung der beiden Teile Deutschlands und die Wiedervereinigung fördern. Um wirtschaftlich aufzuholen (vgl. Kap. 17 zum Mauerbau 1961), müsse aber an den am 28.5.53 angekündigten Erhöhungen der Arbeitsnormen um 10% festgehalten werden (Chronik S.780). Dagegen protestierten am 16.6.53 10’000 Menschen; sie nahmen die Lautsprecherwagen, welche die Rücknahme der Normerhöhungen verkündeten, in Besitz und riefen damit zu einer Grosskundgebung auf. Am 17.6.53 weiteten sich die Streiks und Proteste aus, und der sowjetische Stadtkommandant verhängte den Ausnahmezustand mit nächtlicher Ausgangssperre. Aber als sich der Aufstand nicht legte, sondern Parteibüros angezündet und Rathäuser gestürmt wurden, griffen sowjetische Panzer ein. Bilanz: 21 Tote, 187 Verletzte und 1’200 Verurteilte – bei Krawallen in der Schweiz (1968/1980) hiess das Landfriedensbruch. Aufgrund des Drucks der UdSSR nahm die DDR-Führung die Normerhöhungen offiziell zurück. Damit legte sich die Revolte – Bauern und Gewerbetreibende hatten sich ihr ohnehin nicht angeschlossen (S.782). Dieser begrenzte Sozialkonflikt wurde auch von einigen Rädelsführern aus West-Berlin angeheizt, welche mit Fahnen der BRD durchs Brandenburger Tor zu den Demonstrierenden stiessen (Foto S.780). Einige wurden standrechtlich erschossen. Ich nehme an, dass mancher Altnazi, religiöse Kommunistenhasser oder gar Geheimdienstler ebenfalls fleissig agitierte. Jedenfalls schwoll der Aufstand an.
Man kann aber umgekehrt fragen: Wer beteiligte sich nicht daran? Sicher die Mehrheit …
Die DDR war damals knapp vier Jahre alt. Anfangs März war Stalin gestorben, die neuen Machthaber hiessen Malenkow, Berija, Molotow und Chruschtschow. Im Ostblock, der sich eben erst von den Verwüstungen und Wirren des 2. Weltkriegs erholt hatte, war Freiheit im heutigen westlichen Sinn nicht vorrangig; was zählte, war Disziplin, Fleiss und Linientreue im Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Das Experiment der DDR, den Boden für ein friedliebendes Deutschland zu legen, was historisch völlig neu war, hatte als Hotspot im Kalten Krieg bis dahin kaum eine Chance gehabt.
Eigentlich hatten sich ihre Machthaber am 17.6.53 den primären Forderungen der Demonstrierenden gebeugt. Was einzelne Exponenten darüber hinaus verlangten (Rücktritt der Regierung, Abzug der Sowjettruppen, freie Wahlen, „Wir wollen nicht nur haben Brot, sondern wir schlagen alle Russen tot – Nieder mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft„), war ein Frontalangriff auf die Startbedingungen dieses politischen Experiments, das ja zugleich Teil der geopolitischen Verteidigung Sowjetrusslands war. Dazu hatte sie allen Grund, zumal die BRD zwei Wochen vorher mit den USA ein Freundschaftsabkommen geschlossen hatte. Dort hatte der neue Präsident Eisenhower am 2.2.53 die World Leadership Amerikas verkündet, ebenso die Aufkündigung der Abkommen mit der UdSSR über die Respektierung der beidseitigen Interessenzonen (Chronik S.776). Es ist deshalb nachvollziehbar, dass die östlichen Führungskräfte in dieser Situation nervös und überängstlich reagierten und ein allfälliges Eindringen westlicher Subversion am heikelsten Punkt ihrer Westgrenze um jeden Preis verhindern wollten, auch um den Preis der dem Sozialismus eigentlich innewohnenden Freiheitlichkeit.
Überall auf der Welt, hüben wie drüben, wurden und werden politische Unmutsbewegungen und Krawalle niedergeknüppelt und blutig ertränkt. Das ist grausam, aber zum übergeordneten Machterhalt leider ab und zu notwendig, je nach Gutdünken der Mächtigen. Fast jedes Regime greift zu solchen Mitteln, und meist ist das Gedächtnis kurz. Im Westen sind es Dutzende fast jedes Jahr, im Osten deren drei; den Prager Frühling 1968 muss man leider auch dazu zählen, die geostrategischen Gründe waren ähnlich wie bei Ungarn (vgl. unten d), die damalige CSSR grenzte an die sowjetische Ukraine.
Der katholische Kanzler Adenauer jedoch, im erbitterten ideologischen Kampf gegen den verhassten ungläubigen Rivalen, empfahl den Angehörigen der Opfer die Hinwendung zu Gott (nachzuhören im obigen Link). Die Bundesregierung instrumentalisierte den 17. Juni als Fanal des Volksaufstands gegen die sowjetische Besatzung, zum Nationalen Gedenktag und Symbol für sozialistische Unterdrückung – ohne freilich den eigenen Anteil an dieser dramatischen Zuspitzung anzuerkennen: In einer friedlichen Nachkriegsordnung und einem neutralisierten Gesamtdeutschland oder jedenfalls ohne den krassen wirtschaftlichen Unterschied der Startbedingungen (vgl. Kap. 17: 130 zu 1) wäre es sicherlich nicht dazu gekommen.
Für mich war und ist wichtig, dass aus dem Verlauf der Revolte des 17. Juni 1953 kein moralisches Argument gegen einen zweiten Anlauf zum Sozialismus abgeleitet werden kann – sofern die Startbedingungen besser oder schlicht fair sind. Dann ist es bei solchem sozialen Unmut nicht nötig, Panzer auffahren zu lassen.
d) Beim Aufstand in Ungarn ab dem 23. Oktober 1956 verhielt es sich ähnlich. Wer stand nicht auf und blieb im Land? Die Mehrheit … Mit diesem billigen Argument rechtfertigten Schweizer Bürgerliche den Polizeieinsatz, mit welchem die Jugendrevolten 1968 und 1980 niedergeknüppelt wurden.
Im Februar 1956 hatte Partei- und Ministerpräsident Chruschtschow mit der Stalin-Ära abgerechnet und eine Reform-Periode eingeleitet. Andererseits wurde in Westdeutschland am 9.7.56 die vom Ostblock befürchtete Wiederbewaffnung abgeschlossen mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, und am 17.8.56 wurde dort die KPD verboten (Chronik S.824).
In Ungarn forderten Studenten den Abzug der sowjetischen Truppen und eine stärkere Anlehnung an den Westen. Am 23.10.56 kulminierten die Proteste, als eine grosse Menschenmenge das Stalin-Denkmal vom Sockel riss und zum Haus des Rundfunks zog, um ihre Forderungen durchzusetzen. Dort beschwor aber Parteichef Gerö die Freundschaft mit der Sowjetunion. Die Menge wollte das Rundfunkhaus stürmen, worauf die dort stationierte (zahlenmässig unterlegene) Sicherheitspolizei das Feuer eröffnete und eine Frau tötete. Das war der Startschuss zum Aufstand, dem sich Teile der Armee anschlossen. Erneut wurde Imre Nagy Ministerpräsident, er erreichte den Rückzug der Sowjettruppen, kündigte die Mitgliedschaft Ungarns im Warschauer Pakt auf und proklamierte die Neutralität Ungarns. Damit hatten die Aufständischen offenbar eine rote Linie überschritten. Am 4.11.56 griffen 1’000 sowjetische Panzer die Hauptstadt an und besetzten sie, mit beidseitig hohen Verlusten. Imre Nagy sowie Verteidigungsminister Pal Maléter wurden gefangen genommen und verschleppt (Chronik S.828-831). Janos Kadar übernahm für einige Jahre die Regierung und bis 1988 den Parteivorsitz. Er blieb auf Moskauer Kurs, führte aber immerhin Religionsfreiheit ein (Ploetz S.73).
Die Sowjetunion konnte einen Austritt Ungarns aus dem Satellitengürtel und Warschauer Pakt nicht hinnehmen. Aus ihrer Sicht hätte die NATO mit der Bundeswehr durch das neutrale Österreich und Ungarn direkt an die Grenze der Ukrainischen Sowjetrepublik marschieren können – nach den russischen Erfahrungen mit dem Westen eine strategische Horror-Vorstellung, nur elf Jahre nach dem Sieg über Hitler-Deutschland mit 30 Mio. Toten und Verwundeten. Um das zu verhindern und in Ungarn weiterhin sowjetische Truppen stationieren zu können, wurde die Regierung Nagy gestürzt und der Aufstand (blutig) beendet. Die Folge war eine Massenflucht durch Österreich nach Westeuropa, der Eiserne Vorhang war offen.
Auch hier gehe ich davon aus, dass den Aufständischen das geopolitische Dilemma nicht bewusst war, in welchem der redliche Teil des kommunistischen Machtapparats in Budapest und Moskau steckte. Sie waren teilweise auch katholische Kommunistenhasser, aufgewiegelt von Kardinal Mindszenty, kannten vom Freien Westen fast nur dessen Schalmeientöne und Lockrufe, verbreitet durch Radio Liberty, dieses finanziert vom CIA, und glaubten dessen Propaganda. Die argen Schattenseiten des Westens, seine Greuel und Kriege in den Kolonien, die Rassentrennung in den USA und Südafrika, die riesigen Gefälle in Macht und Geld usw. waren den Studenten wohl nicht präsent. Sie forderten denn auch nur eine Annäherung an den Westen, nicht die Preisgabe aller Errungenschaften und Übernahme des westlichen Systems. Demzufolge bezeichne ich auch diese Revolte als eine linke, am ehesten als eine sozialdemokratische.
Die Flüchtlinge aus Ungarn wurden bei uns nun aber herumgereicht als Beweise des Bösen im Ostblock. Ich erinnere mich, wie wir zu milden Gaben und zur Beherbergung aufgerufen wurden. Frauen strickten Pullover und Socken, beseelt von Dankbarkeit, im freien Westen leben zu dürfen, Männer leisteten freiwilligen Hilfsdienst und betreuten die Ungarn in Armeebaracken. Noch Ende der 70er Jahre verwaltete ich als Hilfsdienstpflichtiger Matratzen und Wolldecken in ausdrücklicher Simulation von 1956, und ein antikommunistischer Geist schwebte über uns …
Die linke Revolte wurde von den rechten Kalten Kriegern instrumentalisiert. Der Wähleranteil der Partei der Arbeit schrumpfte von 5,1 auf 2,6 Prozent (später auf 0,4%), und der Mob griff Dr. Konrad Farner und dessen Familie in Thalwil/ZH tätlich an. Noch heute gewinnt die SVP mit den Emblemen von Hammer und Sichel alle Abstimmungen über linke Anliegen, so stark ist der 1956 und 1961 eingepflanzte politische Reflex – linke Anliegen, denen die Studenten von 1956 liebend gerne zugestimmt hätten, z.B. Mindestlöhne, bedingungsloses Grundeinkommen, mehr Ferien usw. Und das Geschichtsbewusstsein ist nicht weniger einseitig als damals, schreibt doch Jan Strobel im Tagblatt vom 10.8.16 unter Amtliches (!), die Sowjettruppen hätten damals den ungarischen Volksaufstand blutig niedergeschlagen und ein neuerliches Gewaltregime errichtet; 13’000 Flüchtlinge hätten hier Asyl gefunden – ohne den Hintergrund auch nur mit einem Wort zu erwähnen.
Auch in Ungarn war die Niederschlagung des Aufstands eine Folge der Angst der östlichen Machthaber, der militarisierte Westen könnte sich der Westgrenze erneut aggressiv nähern. So ist das Ende des Ungarn-Aufstands kein Beweis für die diktatorische Unterdrückung eines Volkes, sondern ein Beweis für die Entschlossenheit, die östliche Interessen-Sphäre zu verteidigen, auf deren Respektierung sich die Sieger über Hitler-Deutschland 12 Jahre zuvor geeinigt hatten (9.10.44, Chronik S.641) und die für die UdSSR, anders als für Eisenhower, überlebenswichtig war. Ungarn 1956 ist geschichtlich verfälscht worden und kein Argument gegen einen zweiten Versuch, in der Welt oder Teilen davon eine sozialistische Friedensordnung aufzubauen.
e) In der damaligen CSSR gelangten 1968 sog. Reformer an die Spitze von Partei und Staat: Alexander Dubcek und General Ludvik Svoboda, welche den Prager Frühling einleiteten, den Sozialismus mit menschlichem Antlitz (Ploetz S.75). Die Führung der UdSSR und anderer osteuropäischer Staaten erblickte darin die Gefahr einer inneren Aufweichung der Front gegenüber den Westmächten und strebte eine Begrenzung der Souveränität der sozialistischen Staaten an (Ploetz S.42,) also eine Art Pendant zur Truman-Doktrin von 1947, beidseits geboren aus der grossen Angst vor dem System-Gegner. Mit gegenseitigen Besuchen innerhalb des Ostblocks wollten die Führungskräfte beider Strömungen im Sommer 1968 ein Ausscheren der CSSR vermeiden (Chronik S.993 ff, Ploetz S.42, 75). Um jegliche Aufweichung an der empfindlichen West-Spitze des Warschauer Pakts zu vermeiden, rückten in der Nacht des 20.8.68 Truppen der UdSSR und anderer Staaten in die CSSR ein, 200′ bis 600’000 Mann (am folgenden Morgen wurde meine Tochter geboren). Kein Schuss fiel, erst bei der Besetzung von Radio Prag gab es 30 Tote und 300 Verletzte, insgesamt etwa 50 (Chronik S.994). Die Reformer hielten sich noch einige Monate an der Macht und verhandelten, mussten aber am 4.10.68 dem Verbleib einer geringen sowjetischen Besatzungsarmee zustimmen. Mit deren Rückendeckung gewannen die sowjet-treuen Kader unter Führung von Gustav Husàk wieder die Oberhand, welcher Dubcek am 17.4.69 ablöste (Ploetz S.76). Der Prager Frühling war vorbei und mit ihm, aus der Sicht Moskaus, die Aufweichung der Westflanke des Ostblocks. Die Gutmenschen im Westen waren um eine Illusion ärmer.
Die Volksrepublik China verurteilte am 23.8.68 den genannten Einmarsch als Verbrechen (Chronik S.994), die öffentliche Meinung im Westen ebenfalls. Wie Berlin und Budapest wurde Prag 68 zum Synonym sowjetischer Unterdrückung und Gewaltherrschaft – aus der Rückblende eigentlich erstaunlich. Denn diese Sichtweise billigte zwar den Sozialismus als menschliche Vision, nicht aber dessen reale Verteidigung gegen die Roll-back-Strategen. Diese hätten ja nicht gezögert, unter Ausnutzung des Dritten Wegs und mittels raffinierter (Ota Sik, vgl. Kap. 47) Propaganda einen Keil ins Sowjet-System zu treiben, und sie vertuschten die eigenen Niederschlagungen von Befreiungsbewegungen in den Kolonien und in Lateinamerika, welche viel blutiger waren als Prag 1968. Und jene Vorgänge wurden und werden propagandistisch immer noch gegen Hammer und Sichel verwendet von Leuten, die auch den Reform-Sozialismus militant bekämpfen würden, wenn er hierzulande eine Option würde. Also war jene Empörung geheuchelt und heute nicht mehr ernst zu nehmen. Sie war nämlich stumm, als der CIA 1973 den demokratisch gewählten Sozialismus mit menschlichem Antlitz in Chile mittels eines Militärputsches beendete, den Präsidenten Salvador Allende und Tausende Zivilisten in den Tod trieb und eine Diktatur errichtete mit General Pinochet an der Spitze, bis 1990.
Und schon gar nicht ist jene Empörung ein Argument, wenn dem Sozialismus eine zweite Chance gegeben würde – natürlich mit menschlichem Antlitz. Denn der ursprünglich, also richtig verstandene Sozialismus hat nur dieses eine Antlitz.