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19. Tibet – eine Provinz Chinas, schon lange. Der Dalai Lama, vom Westen instrumentalisiert in seiner Doppelrolle, sieht das allerdings anders. Aber wäre die Sezession von China überhaupt mehrheitsfähig?

Unter dem Grossneffen oder Enkel des Dschingis Khan namens Möngke Khan, um 1250 also, erreichte das Mongolen-Reich seine grösste Ausdehnung: von Korea bis etwa Belgrad. Tibet war damals ein Teil des Yuan-Reichs: der südliche Teil des heutigen China. Der nördliche Teil, das Jin-Reich, war die ebenfalls riesige Gegend um Peking (Bild der Wissenschaft 6/2013 S.66). Es folgten Jahrhunderte unter mongolischer Herrschaft.

a) Tibet wurde im 18. Jahrhundert ein chinesisches Protektorat und blieb es bis 1912. Es nutzte damals die Schwächung der Zentralgewalt, um sich von China zu lösen. Dieses gab aber, während Tibet ein „indirektes britisches Protektorat“ wurde (Ploetz 1977 S. 368), seinen Anspruch nicht auf, ratifizierte die Shimla-Konvention nicht, die eine völkerrechtliche Unabhängigkeit bedeutet hätte, und seine Truppen fielen 1950, ein Jahr nach der Konstituierung als Volksrepublik, in Tibet ein. Im Abkommen vom 23. Mai 1951 wurde Tibet der VR China eingegliedert, unter Wahrung seiner nationalen Regionalautonomie und Religionsfreiheit. Als die chinesischen Kommunisten die Macht der wirtschaftlich und sozial bestimmenden lamaistischen Klöster einschränken wollten (der theokratische Adel hatte vor 1950 seine Widersacher mit Folter und Blendung unterjocht, und es hatte keine einzige Schule gegeben, TA 9.2.77 S.41 und 1.3.77 S.2), kam es 1959 mit Hilfe des CIA zum Khamba-Aufstand gegen China (Massaker an 2000 Soldaten), den dieses grausam unterdrückte. Der Dalai Lama (24) floh mit Teilen des geistlichen Adels sowie Kunstschätzen und Gold (42 Mio. US$) nach Indien. Tibet wurde 1965 eine autonome Region mit Volkskongress, was, wie im übrigen China, zu seiner Modernisierung führte. Das sind die wesentlichen historischen Fakten. Tibet war nie ein souveräner, eigenständiger Staat im Sinne des Völkerrechts, nie ein Völkerrechtssubjekt (Peters, Völkerrecht S.32). Also ist seine Besetzung durch chinesische Truppen eine inner-chinesische Angelegenheit, völkerrechtlich vergleichbar mit den Polizei-Einsätzen während der Schweizer Jura-Krise in den 80er Jahren.

Die Exil-Tibeter, ihre Nachkommen und Verbündeten, über die ganze Erde verstreut und gut vernetzt, sehen das allerdings anders. Die Tibet Initiative e.V. in Deutschland (gegründet 1989 für das Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Volkes sowie die Wahrung der Menschenrechte in Tibet) spricht ab 1950 von chinesischen Besatzern (Brennpunkt Tibet 03/2020 S.35, Auflage 2’500), also von ausländischen Eindringlingen, welche ein zuvor unabhängiges Gebiet mit militärischen Mitteln unterjochen und in ihr Staatsgebiet integrieren (Annexion). Der Begriff Besatzer passt jedoch im ernsthaften völkerrechtlichen Diskurs nicht auf das, was das kommunistische China in seiner Provinz tat, sondern eher auf das, was Israel mit palästinensischen Gebieten 1967 nach seinem Präventiv-Krieg tat: mit Ost-Jerusalem, West-Jordanien, dem Gaza-Streifen und den syrischen Golan-Höhen (vgl. Kap. 21-23). Der Gebrauch des Wortes Besatzung ist daher ein tragischer Irrtum oder, im Kontext der anti-kommunistischen Propaganda, ein hetzerischer Kampfbegriff gegen das kommunistisch geführte China.

b) Im Westen wurde die Besetzung Tibets und die Niederschlagung des Aufstands als weiteres Paradebeispiel bezeichnet, wie die Kommunisten den Freiheitsdrang der Völker gewaltsam unterdrücken, in einer Linie mit Berlin 1953 und Ungarn 1956. Die Stimmung war derart harsch und aufgepeitscht, dass mit Ächtung bestraft wurde, wer das anders sah.

Ich sah das anders. Noch in den 50er Jahren unterdrückten die europäischen Kolonialmächte den Freiheitsdrang in Afrika und Südost-Asien herrisch (u.a. mit Fremdenlegionären) und bestialisch, und in Amerika fielen die Yankees immer wieder in aufmüpfige Republiken ein (vgl. Kap. 14) und sorgten für eine ihnen genehme Ordnung, ja sie schlugen die Aufstände ihrer Indigenen (Indianer) blutiger nieder als die Chinesen den Aufstand der Tibeter.

Im biederen Mitteleuropa fiel damals niemandem auf, dass die Verurteilung der Kommunisten als scheinbar blutrünstige Monster aus falscher Ideologie konsequenterweise auch zur Verurteilung der kapitalistischen und kolonialistischen Ideologie hätte führen müssen, aus falsch verstandenem Christentum. Die Verurteilung der chinesischen Kommunisten war blau- und einäugig und folgte der westlichen Propaganda, wie ein Papagei.

c) Dabei liegt, mindestens aus heutiger Distanz, völlig auf der Hand, dass beide Machtblöcke zu den Kanonen griffen, um ihren Machtbereich auszudehnen oder jedenfalls nicht schrumpfen zu lassen. Daraus folgt, dass die Bezeichnung des Kommunismus als blutrünstiger und anti-freiheitlicher Ideologie propagandistisch einseitig war und höchstens zu prüfen ist, welche Ideologie-Anwendung weniger menschenverachtend war (und ist) als die andere. Mich überzeugte damals, dass China sein Protektorat nicht kampflos der britischen Kolonialmacht im Süden überlassen und dass es die Werktätigen Tibets nicht unter dem Einfluss weltabgewandter Spiritualität belassen wollte – in marxistischer Lesart war das ja schmarotzende Ausbeutung. Für mich war das weniger menschenverachtend als die Ausbeutung der Kolonien durch schmarotzende Weisse.

d) Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama, am 22.2.40 als Fünfjähriger inthronisiert, gefiel sich jahrzehntelang in einer Doppelrolle als geistliches Oberhaupt und politischer Führer im Exil, bis 2011 (vgl. NZZ 21.3.16 S.2: 88’000 Exiltibeter wählen am 20.3.16 ihre Exilregierung und -Parlament). Die westliche Propaganda stilisierte ihn zum Freiheitshelden empor, zum Märtyrer der roten Diktatur. Sie ignorierte völlig, dass China ihm den Pantschen Lama als zweithöchsten Würdenträger zur Seite gestellt hatte, der nach der Flucht des Dalai Lama automatisch nachrückte. Sicher aber ist die Aussage zutreffend, dass der Westen dessen spirituelles Charisma dafür instrumentalisierte, Stimmung gegen das kommunistische China zu machen und uns auf eine Propaganda-Linie einzuschwören. Diese ist natürlich, mitten im Kalten Krieg, als Kriegs-Propaganda einzustufen, also zum vornherein als völlig einseitig und unglaubwürdig. Denn die chinesische Darstellung, welche auf die jahrhundertelange Zugehörigkeit Tibets zu China pochte und sich immerhin auf das Abkommen von 1951 berufen konnte, wurde völlig verschwiegen. Man durfte damals nur Papagei sein und nicht fragen, ob denn die andere Seite nicht auch ehrbare Gründe hatte für ihr Handeln – und auch nicht fragen, ob es denn mit dem Buddhismus als Seelen- und Gott-lose Religion vereinbar sei, sich zum politischen Sprachrohr einer Ethnie gegen eine andere zu machen und damit neues Leiden zu schaffen, und ob ein Mensch überhaupt heiliger sein kann als die andern.

e) Daraus folgt, dass das damalige und heutige Gezeter um Tibet kein Gegen-Argument sein darf, wenn es um eine zweite Chance für die Sozialisten geht. Das gilt auch für das Gejammer des kanadischen Ex-Justizministers, eines Juden (Radio SRF/Echo der Zeit 1.3.16), dass China für die Besetzung Tibets im Menschenrechtsrat der UNO nie getadelt werde, Israel aber für die Besetzung Palästinas regelmässig. Denn der Unterschied liegt auf der Hand: Tibet war zumindest und ist Bestandteil Chinas, während Palästina nie Bestandteil Israels war – das ist es erst in der Lesart und den Landkarten Israels: seit der Staatsgründung 1948 und der Staatserweiterung 1967 (vgl. die Kap. 21-23). Hier ist das Völkerrecht klar.

Papageien-Pech auch für alle, die sich immer noch über die Unterdrückung Tibets durch China beklagen: Neben der fälligen Modernisierung dieses autonomen Teilstaats lässt China alle frei gewähren, welche den Buddhismus leben möchten, z.B. im Zhaxi-Lhunbo-Kloster in Xigazeh, wo soeben wieder das riesige Porträt des Thangka Buddha enthüllt wurde (blickamabend 21.7.16 S.10).

Und kaum erklärt sich China zuständig für gewisse administrative Belange der Exil-Tibeter, so geht ein neues Gezeter durch die Leserbrief-Seiten (NZZ 2.8.16). Dabei ist das einfach die logische Konsequenz der Zugehörigkeit der Provinz Tibet zu China. Der Bundesrat handelt völkerrechtskonform, wenn er in den Ausländerausweisen als Herkunftsland China schreiben lässt.

f) Eine völlig andere Ebene, die einzig zulässige, ist die allfällige Sezession dieser Provinz von China, analog zum Kosovo gegenüber Serbien oder zur Krim gegenüber der nun plötzlich pro-westlichen Ukraine (vgl. Kap. 2 und 32). Ich weiss nicht, ob und wie sie nach inner-chinesischem Recht möglich wäre – aus übergeordnetem Recht, nämlich dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, sollte sie möglich sein. Sicher wäre es aber für den Dalai Lama und die Exil-Tibeter ein Wagnis, ob diese und die heutigen Bewohner Tibets insgesamt der Loslösung von China mehrheitlich zustimmen würden – mit allen politischen, wirtschaftlichen, verkehrstechnischen und auch militärischen Konsequenzen, welche eine solche Verselbständigung dieses Binnen-Landes hätte. Würde die Abstimmungsfrage korrekt gestellt, natürlich nach langer und gründlicher Vorbereitung durch UNO-Organe, und würde ein kontradiktorischer Abstimmungskampf geführt werden können, in dem auch China eine Stimme hätte, und dürfte China die unter Umständen missliebigen Konsequenzen aufzeigen, z.B. Rücknahme seiner riesigen Investitionen – ich würde keine Wette eingehen wollen, dass die Sezession mehrheitsfähig ist. Aber eine Analogie zum Brexit vorzubereiten wäre für die UNO sicher eine reizvolle Aufgabe – wenn alle anderen Probleme (vgl. Kap. 30) gelöst sind …

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